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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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gestreifte Polster des Diwans zurück. »Sagen Sie … was wissen Sie über Herzog Karls gegenwärtige Mätresse?«

Kapitel 14

In der Blüte
    Quellen: M. F. L., J. Blom, Frau Lind, das Skelett (M. F. L.s Hausdiener), Vater Berg, Luisa G., Bedienstete auf Gullenborg
    Einige Wochen nachdem ich Johanna im
Sauschwanz
kennengelernt hatte, stand sie am Ende einer engen Gasse, die auf den Köpmantorget führte. Sie kannte die Adresse schon lange auswendig, aber sie stellte ihren Koffer ab und las die abgewetzte Visitenkarte noch einmal. Sie ließ ihren Blick über die Häuser wandern, die ihr in ihren goldgelben Schattierungen vor den Augen verschwammen. Vor Jahren hatte ihr Vater sie einmal auf seine jährliche Reise nach Stockholm mitgenommen, wo er immer seltene Arzneien für die Apotheke gekauft hatte. Eine unauslöschliche Erinnerung an diesen Aufenthalt waren die schillernd bunten Kleider, die die Städter trugen, so verlockend, dass sie sich beherrschen musste, die duftigen cremeweißen Spitzen, den rauchbraunen Samt, den himbeerroten Satin anzufassen, daran zu riechen, ja sogar zu kosten. Der Reigen der Mode kannte keine gesellschaftlichen Grenzen, selbst die Verkäufer in den Krimskramsbuden trugen einen Regenbogen aus Seide.
    Wenn Johanna erst einmal ihren Weg gefunden und sich als Apothekerin etabliert hätte, würde sie alles an sich verändern. Sie würde Kleider aus feinem, farbenfrohem, duftgetränktem Tuch tragen. Sie würde ausreichend essen, um Rundungen zu bekommen. Sie würde im Tonfall derer sprechen, die in der Stadt geboren und aufgewachsen waren, und sie würde ihr Französisch perfektionieren, ihr Latein aufbessern und Englisch lernen. Sie würde einen anderen Namen annehmen – jedoch nicht auf die Weise, wie ihre Eltern es vorgesehen hatten.
    Im Spätfrühling war sie Knall auf Fall in der Apotheke ersetzt und Jakob Stenhammar zur Ehe versprochen worden, einem siebenundvierzigjährigen Witwer, dem die einzige Mühle in Gävle gehörte. Er hatte fünf Kinder, alle jünger als sieben Jahre, darunter einen Säugling, der seine Frau ins Grab gebracht hatte. Es ging jedoch das Gerücht, Jakob Stenhammar hätte mit seinen behaarten roten Fäusten zu ihrem Hinscheiden beigetragen. Frau Grå hatte diese arme Familie als eine Gelegenheit für Johanna betrachtet, Gutes in der Welt zu tun. Für Johanna war es das Ende der Welt gewesen. Sie hatte um Errettung, Erlösung, um ein Zeichen gebetet, und Gott hatte es ihr gesandt – in Gestalt eines Mannes aus der Stadt namens Meister Fredrik Lind.
    Der eine oder andere Sonderling rechnete wohl immer noch damit, auf Johannas Hochzeit zu tanzen, doch mittlerweile wussten die meisten, dass sie mit ihrer Aussteuer weggelaufen war. Sie fälschte einen Reisepass, sie wusste, dass die meisten Soldaten sowieso nicht lesen konnten, wanderte vier Tage nach Uppsala und kaufte sich dort eine Fahrkarte für die Kutsche nach Stockholm. Sie wollte sichergehen, dass niemand sie finden konnte, und die Stadt war der perfekte Ort, um vollständig unterzutauchen; täglich sahen ein paar hundert Leute ihr Gesicht, dabei aber sah niemand sie wirklich. Johanna eilte an Porzellan- und Stoffläden vorbei, an Lebensmittel-, Besen-, Vogel-, Topf- und Pfannenhändlern, einer Apotheke, die sie vor Heimweh kurz zusammenzucken ließ, an mindestens sechs Schänken voller grölender Gäste, einem Kaffeehaus im ersten Stock, aus dem Stimmengewirr und der Duft gerösteter Kaffeebohnen auf den Platz herunterwehte, und dann sah sie es: ein fünfstöckiges goldrutengelbes Haus, nur zwei Zimmer breit. Nummer  11 . Sie stellte ihren Koffer und die Apothekertasche ab, strich ihren grauen Umhang glatt und steckte eine Locke in ihre Haube zurück – ein vergeblicher Versuch, nach der Nacht, die sie in der Sankt-Nikolai-Kirche verbracht hatte, ordentlich auszusehen.
    Ein blasser Mann mit einem langen, düsteren Gesicht öffnete auf ihr Klopfen hin. Er musterte sie von Kopf bis Fuß durch den kleinen Türspalt und flüsterte fast: »Bedienstete nehmen den Hintereingang«, dann schlug er ihr die Tür vor der Nase zu. Johanna eilte durch einen engen Durchgang zum hinteren Teil des Hauses. Dort erwartete sie derselbe Diener, Verärgerung stahl sich in sein Gesicht – er konnte ja nicht wissen, in wessen Auftrag sie unterwegs war. Er war so dünn, dass die weißen Handgelenke, die aus seinen Jackenärmeln ragten, aussahen wie Elfenbeinspindeln.
    »Wie kann ich der jungen Dame helfen?«, fragte er.

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