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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Kerle dort ja nicht ohne Fish and Chips lassen, oder?«
      Die Verkäuferin lachte.
      Sue klammerte sich an den Magazinständer, um nicht umzukippen. Ihr Herz schlug so schnell und laut, dass sie glaubte, es würde zerbersten. Sicher konnten die Verkäuferin und der Mann im Laden es hören. Ihr Gesicht war rot geworden, sie bekam kaum Luft. Vor ihren Augen schien alles zu verschwimmen und zu flimmern wie Staub im Sonnenlicht: die Titelseiten, die trostlosen Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite. Und die ganze Zeit versuchte sie krampfhaft, auf den Beinen zu bleiben; sie durfte nicht zulassen, dass diese beiden Menschen sahen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie würden ihr zu Hilfe eilen, und dann ...
      Und während Sue sich festhielt und um ihre Selbstbeherrschung kämpfte, fuhr die Stimme, die schreckliche, vertraute Stimme, die sie einen Monat lang heiser flüsternd in ihren Alpträumen heimgesucht hatte, fort zu schwatzen und zu plaudern, als wäre nie etwas Schlimmes passiert.
     
     

* 40
    Kirsten
     
    Als Kirsten am 3. Januar am Bahnsteig stand und den Intercity um 12:25 Uhr abfahren sah, war sie tieftraurig. Trotz des schwierigen Beginns war das diesjährige Weihnachten in Brierley Coombe letztlich die beste Zeit gewesen, die sie seit dem Überfall erlebt hatte. Sie war froh gewesen, Sarah dabeizuhaben, besonders als Gegenpart zu den Onkeln, Tanten und Großeltern, die sie behandelt hatten, als wäre sie eine schwachsinnige Behinderte.
      Das Dorf sah aus wie eine Weihnachtskarte. Nachdem am 22. Dezember der Schneefall eingesetzt hatte, schneite es noch fast zwei Tage weiter, und besonders auf dem Land, wo es wenig Verkehr gab und keine Industrie sie verunstaltete, war die Schneedecke eine Augenweide. Auf den Reetdächern lag eine gut fünfzig Zentimeter dicke Schicht, die sanft die Dachvorsprünge und Giebel betonte; und im Wald, in dem Kirsten häufig mit Sarah am frühen Morgen spazieren ging, ruhte der Schnee auf Zweigen und Ästen und erzeugte ein Bild von zwei gegenteiligen Welten: Das Weiße hatte sich auf das Dunkle gelegt.
      Zu den Schlussverkäufen am zweiten Feiertag waren sie erneut nach Bath gefahren, wo sie auch mit Laura Henderson, die Sarah sofort mochte, etwas trinken gingen. Und einen Abend hatten sie die Einheimischen im Dorfpub schockiert. Sarah trug ihr FISCH AUF EINEM FAHRRAD-T-Shirt, auf das alle Gäste peinlich berührt reagierten. Typisch Sarah: die nachlässig frisierten blonden Haare, die blasse Haut und die zarten Gesichtszüge, die aussahen, als wären sie geschickt aus dem feinsten Porzellan hergestellt und dann perfekt geglättet und poliert worden, und um dem ganzen die Krone aufzusetzen, diese auffällige, über ihre Brust gekritzelte Erklärung der Überflüssigkeit des männlichen Geschlechts.
      Niemand belästigte sie, wie es die Typen aus Lancashire in Bath getan hatten, aber die Männer aus dem Dorf schauten herüber und tuschelten nervös miteinander, manche lächelten hochnäsig. Für Kirsten war es der unangenehmste Abend der Feiertage gewesen. Ihre Begeisterung für volle Pubs schien nicht lange gehalten zu haben. In Lauras oder Sarahs Gegenwart konnte sie sich entspannen, in der Nähe von Männern war sie jedoch nach wie vor unruhig und verstimmt. Und wenn die Männer mit diesem überlegenen Lächeln herüberschauten, glühten ihre Wangen vor Angst und Wut. Schließlich hatte ihr ein Mann genommen, was andere Männer von ihr wollten. Irgendwie waren sie alle in diese Sache verwickelt, dachte sie.
      Silvester gingen Kirstens Eltern zu einer Party. Kirsten und Sarah waren auch eingeladen, aber da keine von beiden Lust auf einen Abend mit einem Haufen betrunkener, alter Börsenmakler, ihren gelangweilten Frauen und Yuppiesprösslingen hatte, beschlossen sie, zu Hause zu bleiben und allein zu feiern.
      Der Cocktailschrank war gut bestückt, im Kamin loderte ein Holzfeuer, und sie hatten die Lampen ausgemacht und stattdessen Kerzen angezündet. Durch die offenen Vorhänge der Terrassentüren konnte man den schneebedeckten Garten und die Bäume sehen. Kirsten holte einige Platten und Kassetten aus ihrem Zimmer und spielte sie auf der Anlage ihres Vaters. Alles schien perfekt zu sein. Sie setzten sich auf den dicken Läufer vor dem knisternden Feuer und lauschten Mozart, neben sich eine Flasche Cognac.
      »Was hast du nun vor?«, fragte Sarah, als sie ihnen den zweiten Drink einschenkte.
      »Mit meinem Leben, meinst

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