Das Südsee-Virus
Lombardsbrücke zu stehen und zu beobachten, wie sie infiziert wurde von dem Zauber, den diese einzigartige Stadtlandschaft im Betrachter auszulösen vermochte.
»Die Innenstadt ist von der Katastrophe ausgenommen, nach Norden hin ist weitgehend alles wie gehabt«, hörte er Kühling sagen. »Das liegt an der zwölf Meter hohen Flutschutzmauer, die vom Fischmarkt bis zu den Elbbrücken reicht. Ein gigantischer Betonwall, hochgezogen in nur einem Jahr – sieht schrecklich aus, ist aber effektiv. Du hattest wirklich keine Ahnung, oder?« Kühling schnitt eine Zigarre an. »Verglichen mit dem, was sich in Amsterdam abspielt, ist das hier noch Gold …«, fuhr er fort. »Wir haben Wilhelmsburg und Harburg aufgeben müssen, aber doch nicht gleich die ganze Stadt … Dadurch, dass Niedersachsen der Elbe eine fünf Kilometer breite Auslaufzone gestattet hat, ist Hamburg in der Lage, seine Schäfchen auf Jahrzehnte ins Trockene zu bringen. Nicht schlecht in der heutigen Zeit, das musst du zugeben …«
»Willst du damit sagen, dass die Elbe nach Süden hin jetzt fünf Kilometer ins Land reicht?!«
»Bei extremer Sturmflut ja. Die Deichlinie so weit zurückzuziehen war das Beste, was man machen konnte. Für Cuxhaven, Otterndorf, Stade, die Vierlande und die anderen Elbgemeinden tut es mir leid, aber wenn sich die Menschheit in einem erfolgreich geübt hat die letzten Jahre, dann in der Kunst der Evakuierung.«
Mike Kühling war von Natur aus ein sarkastisch veranlagter Mensch, seine Kommentare waren schon immer gewöhnungsbedürftig gewesen. Zum ersten Mal jedoch hatte Cording das Gefühl, dass die zynische Weltsicht seines Freundes mit der Realität durchaus in Deckung zu bringen war.
»Na bitte«, hörte er Mike sagen, »kaum duftet es im Haus nach Kaffee, wachen Steve und Shark auf … Sind übrigens richtig nette Jungs. Von Steve weißt du das ja, aber auch Shark wird euch von Nutzen sein, wenn er wieder richtig fit ist. Die GO!-Show hätte ohne ihn nicht funktioniert. Lasst ihn einfach machen, und ihr werdet eure helle Freude an ihm haben.«
Sie gingen hinaus auf die Terrasse und setzten sich an den üppig gedeckten Frühstückstisch. Wenig später erschien Maeva in der Tür. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, Jeans und ein umwerfendes Lächeln im Gesicht. Mike rückte ihr den Stuhl zurecht. Die Haushälterin deckte das Körbchen mit den Eiern auf und schenkte Tee und Kaffee ein. Maeva reckte sich und blickte auf den glitzernden breiten Strom zu ihren Füßen.
»Schön habt ihr es hier in Hamburg«, sagte sie. Dabei legte sie Cording die Hand aufs Knie: »Es tut richtig gut, in deiner Stadt zu sein …«
»Das freut mich«, antwortete Cording mit belegter Stimme.
Während Mike seinen Redaktionsgeschäften im Verlagshaus am Baumwall nachging, nutzten seine Gäste das Haus am Elbhang als ihr Planungszentrum. Von hier aus legten sie die Stationen fest, die Maeva auf ihrer Reise um die Welt demnächst besuchen würde. Ausgangspunkt sollte die sich selbst verwaltende Region Dithmarschen sein, die nur siebzig Kilometer von Hamburg entfernt lag.
Der Vorschlag kam von Cording, der sich daran erinnerte, dass sich der Landkreis bereits vor dreißig Jahren den ökologischen Erfordernissen der Zeit unterworfen hatte. In Dithmarschen war das erste Windrad Deutschlands aufgestellt worden, und zwar im Garten seines Erfinders Karl-Heinz Grün. Er hatte eine Reportage über den Mann geschrieben. Ein Verrückter, zweifellos, ein Besessener, der es in seinem missionarischen Eifer sogar verstanden hatte, die mit friesischer Sturheit geschlagenen Bauern auf seine Seite zu ziehen. Als immer mehr Landwirte damit begannen, die Dächer ihrer Ställe und Wohnhäuser mit Solarzellen zu bestücken, als sich auf den Wiesen immer mehr Windräder zu drehen begannen und die Düngemittelindustrie in der Region einen Kunden nach dem anderen verlor, weil Grün dafür gesorgt hatte, dass in Meldorf regelmäßig über die Vorzüge von Permakultur und alternativer Landwirtschaft aufgeklärt wurde, begannen sich auch der Propst und der Landrat zu interessieren. Seit 2006 fanden im Dithmarscher Herbst regelmäßig sogenannte »Klimatage« statt. Selbst der Weltklimarat hatte es sich nicht nehmen lassen, hier zu tagen. Trotz aller Aufmerksamkeit, die dem Landkreis zuteilwurde, hatte sich die Landesregierung in Kiel wenig kooperativ gezeigt. Also erklärte sich Dithmarschen im Jahre 2014 kurzerhand zur ersten Ökoregion
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