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Das Südsee-Virus

Das Südsee-Virus

Titel: Das Südsee-Virus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk C. Fleck
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sich, was Walther von der Vogelweide mit Bozen zu tun hatte. Wieso hatten sie den Platz im Zentrum der Südtiroler Landeshauptstadt, auf den er vom dritten Stock des »Greif«-Hotels blickte, nach einem vor achthundert Jahren verstorbenen Minnesänger deutscher Zunge benannt, der mit diesem Flecken doch gar nichts an der Leier hatte? Wieso stand sein Denkmal hier, wo doch ganz andere Städte den Anspruch erhoben, Heimat des Barden zu sein? Frankfurt am Main zum Beispiel, Würzburg, Heidelberg, Feuchtwangen oder Dux in Böhmen. Aber Bozen?
    Hatte er wirklich Lust, es in Erfahrung zu bringen? Dann hätte er Maeva ins Bolzano Centre begleiten sollen, wo die Stadt ihr zu Ehren gerade einen Empfang ausrichtete. Aber in seinem Zustand wäre das nicht ratsam gewesen. Über Nacht war er von einer heftigen Magen-Darm-Grippe befallen worden. Die Vorstellung, sich alle drei Minuten von der Festtafel entfernen zu müssen, war nicht lustig. Seine Anwesenheit war auch nicht vonnöten, Maeva kam allein klar, sie hatte hier quasi ein Heimspiel. Abzulesen war dies an den Hunderten von Fahnen, die man anlässlich ihres Besuches in der Stadt gehisst hatte, obwohl diese nicht unterschiedlicher hätten sein können. Auf der einen Seite der feuerrote Adler der Autonomen Republik Bozen-Südtirol, dessen zerfledderte Schwingen ihm wie ausgewrungene Wäschestücke vom Leib hingen, auf der anderen Seite die stolze, unter Segeln stehende Piroge Polynesiens, die vor dem Strahlenkranz der Südseesonne übers Meer glitt.
    Die Idee, in Bozen Station zu machen, kam von Maeva selbst. Sie wollte der Einladung des Bürgermeisters, die nach der Veranstaltung in Dithmarschen auf der Website von EMERGENCY TV eingegangen war, unbedingt Folge leisten. Verständlich, denn immerhin war die kleine Alpenrepublik im Norden Italiens seit einigen Jahren konsequent dabei, sich nach dem Vorbild Tahitis neu auszurichten. Das Projekt war in Europa bislang ohne Beispiel. Zwar gab es auf dem alten Kontinent inzwischen genügend Kommunen, die sich von den großen Energieunternehmen abgekoppelt hatten und sich nun selbst versorgten, es gab verkehrsberuhigte Städte und Regionen, in denen der Anbau genmanipulierter Pflanzen verboten war, es gab neue Ökodörfer, deren Gebäude ausschließlich nach den Gesetzen der Baubiologie errichtet worden waren – ein so umfassendes Konzept, wie man es in der Autonomen Republik Bozen-Südtirol umzusetzen versuchte, gab es woanders jedoch noch nicht. Kraftwagen mit Verbrennungsmotoren durften die Grenzen nicht passieren, die Straßen waren zu siebzig Prozent vom Asphalt befreit und mit Reiskleie versehen worden. Reiskleie war ein Abfallprodukt, das beim Mahlen und Polieren von Naturreis anfiel. Dieser Straßenbelag war porös, abriebfest und geräuscharm. Die ehemalige Brennerautobahn zwischen Brixen und Trient war nur noch einspurig befahrbar, auf der anderen Spur verkehrten die Kabinen des Rail-Cab auf ihrer vorgezeichneten Magnetspur. Die »Gondeln«, wie sie hier hießen, erinnerten an den Reva Tae auf Tahiti. Sie funktionierten auf Anforderung und waren rund um die Uhr abrufbar. Drei Wasserkraftwerke bei Meran, Tramin und Tesero generierten genügend Energie, um die Region zu neunzig Prozent mit Strom zu versorgen. Ein viertes war bei St. Johann im Bau.
    Cording wunderte sich, wo die nahen Berge geblieben waren, die der Stadt eben noch bedrohlich zu Leibe gerückt waren. Eine dunkle Wolkenfront fegte in niedriger Höhe über den Platz. Und plötzlich, als hätte jemand den Reißverschluss geöffnet, pladderten hühnereigroße Hagelkörner aufs Pflaster, das sich innerhalb von Sekunden in eine glitschige weiße Wüste verwandelte, auf der die einschlagenden Eisbomben einen wahren Veitstanz vollführten. Der bejammernswerte Bozenadler wand sich an den Fahnenstangen, als würde man ihm das Gefieder ausreißen, während Tahitis Piroge dem Sturm tapfer standhielt. Inmitten des Infernos stand einsam und verlassen Walther von der Vogelweide und köpfte die Geschosse mit seinem Betonschädel, so gut es eben ging, aus der Gefahrenzone.
    Cording rückte vom Fenster ab, das unter den Einschlägen jeden Moment zu bersten drohte. Er legte sich aufs Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lauschte den stürzenden Fluten, die aus den überforderten Dachrinnen zu Boden schwappten. Ein Wetter haben die hier … Kein Wunder, dass sich keine Sau auf die Straße traute, um Maeva zu huldigen. Vielleicht lag es aber auch an der

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