Das Sühneopfer: Historischer Kriminalroman (Schwester Fidelma ermittelt) (German Edition)
ihnen an Habe geblieben war, wurde zusammengepackt. Appetit hatte nach dem morgendlichen Zwischenspiel keiner so recht, und so fiel das Frühstück spärlich aus. Gormán ging noch einmal die Wassersäcke füllen, und dann bestiegen sie die Pferde und machten sich auf den Weg Richtung Nordwesten. Schweigend ritten sie durch die hügelige Landschaft, langsam und mit ihren Gedanken beschäftigt, durchwateten Rinnsale und Bäche. Erst als sie an einem größeren Fluss entlangzogen, den sie als den An Mhaoilchearn erkannten, fanden sie ihre Sprache wieder.
Selbst Gormán, der nicht über den Verlust von Rangzeichen und Schwert hinwegkam, was für ihn gleichermaßen den Verlust von Ehre und Nachweis seines Ranges als Krieger der Leibgarde des Königs von Cashel bedeutete, überwand seine Lethargie.
»An den Ufern hier wirst du nie verhungern«, versicherte er Eadulf, der ihn nach dem Fluss gefragt hatte. »Lachse und Meerneunaugen kommen zum Laichen her, auch gibt es jede Menge Ottern. Weiter oben im Norden fließt er mit dem Sionnan zusammen. Kennst du die Geschichte, wie der entstanden ist?«
Noch ehe Eadulf antworten konnte, mischte sich Fidelma ein. »Über seine Entstehung gibt es viele Geschichten. In einer heißt es sogar, dass unter seinem Mündungsgebiet eine Stadt der Fomorii, der Unterwassermenschen, liegt. Alle sieben Jahre kommt sie angeblich an die Oberfläche, und Menschen, die sie erblicken, müssen sterben.«
»Ich dachte mehr an die Geschichte mit der Tochter von Lodan, dem Sohn des Meergottes Lir«, sagte Gormán. »Sie war ein eigensinniges Mädchen und begab sich eines Tages zur Segais-Quelle, der verbotenen Quelle der Weisheit. Weil sie aber etwas Verbotenes tat, stieg das Wasser unerbittlich und trieb sie vor sich her bis ans Meer, wo sie ertrank. Das Wasser grub das Bett des großen Flusses, der nun ihren Namen trägt.«
»Das ist die eine Geschichte«, stimmte ihm Fidelma zu. »Es gibt aber noch eine andere, und in der geht es um ein wildes Tier, einen Drachen namens Oilliphéist. Der wurde vom heiligen Patrick gejagt, und die Spur, die das Untier hinterließ, bildete eine Schlucht, die sich mit Wasser füllte und so zum Fluss wurde.«
Eadulf war sich wohl bewusst, dass die beiden nur so munter daherplauderten, um von ihrer misslichen Lage abzulenken. »Die Geschichte von Sionnan gefällt mir besonders gut«, meinte er. »Das Mädchen könnte auch im wahren Leben vorkommen – eine Person, die sich nicht scheut, an verbotenem Ort nach verbotenem Wissen zu forschen.« Er tat dabei ganz harmlos.
Fidelma verstand die Anspielung und schnitt ihm ein Gesicht. Er war erleichtert, dass ihr Humor sie trotz allem nicht gänzlich verlassen hatte.
»Weißt du noch mehr über diese Quelle der Weisheit?«, fragte er.
»Über die erzählst besser du, Gormán«, forderte Fidelma den jungen Krieger auf.
»Die Quelle der Weisheit? Auch über die gibt es viele Geschichten. In zwei von ihnen geht es um die Entstehung von Flüssen. Um die Quelle herum sollen neun Haselbüsche gestanden haben, die die Nüsse der Weisheit trugen. Sie fielen in die Quelle, in der ein Lachs lebte. Er fraß von den Nüssen und wurde so Fintan, der Lachs der Weisheit.«
So redeten sie leicht dahin, doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der räuberische Überfall Fidelma mehr zusetzte, als sie nach außen hin zeigte. Am schlimmsten war der Verlust der persönlichen Wahrzeichen und Herrschaftssymbole. Beides war in der Kultur ihres Volkes von großer Bedeutung. Ohne sie würde es schwierig werden, sich bei den rebellischen Uí Fidgente zu behaupten.
Es war schon Nachmittag, als sie an eine ausgedehnte Moorsenke kamen, in der nichts als Riedgras und Schilfrohr wuchs.
»Da sind wir ja mitten in der Wildnis«, stellte Eadulf fest.
»Gut beobachtet, mein Freund«, lobte ihn Gormán. »Das Gebiet hier heißt Fasagh Luimneach , Wildnis der kargen Ebene. Deshalb heißt auch die Abtei so.«
Eadulf krauste die Stirn. »Mungairit? Das musst du mir erklären.«
» Mun kommt von moing , das hohe Schilfgras, und gairit kommt von garidh , ein Hügel, der sich über das Sumpfland erhebt.«
Es dauerte nicht lange, und sie sahen die große Abtei des heiligen Nessán vor sich liegen. Gleich auf den ersten Blick empfand Eadulf sie als grau und abweisend. Sechs Kapellen zählte er in dem Gebäudekomplex.
»Sie ist weitaus größer als ich sie mir vorgestellt habe«, sagte er.
»Sie gilt als berühmter Hort der Gelehrsamkeit«,
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