Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
spekulierte Marek über den Inhalt des Buchs, aber er hatte eine Ahnung, und falls er nur ansatzweise richtiglag, war die Suche nach den beiden anderen Teilen jede Unannehmlichkeit wert. Außerdem war er fest davon überzeugt, dass Gott selbst ihn dazu auserwählt hatte, das Geheimnis zu enträtseln. Warum sonst hätte der Herr einen Teil dieser Schrift in seine Hände gelangen lassen?
Immer noch in Gedanken über das seltsame Buch versunken, wäre Marek beinahe mit dem Kopf gegen die Tür seiner Vermieterin gestoßen. Er war wieder vor dem Haus angekommen, in dem sich seine Kammer befand. Marek war Untermieter bei der ehrsamen alten Witwe Greiner, einer Frau, die schon in jungen Jahren ihren Mann verloren, sich seither nicht mehr vermählt und es dennoch geschafft hatte, ihren guten Ruf zu wahren.
Marek öffnete die niedrige Eingangstür, und augenblicklich drang ihm der Geruch von frischen Kohlrouladen in die Nase. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er seit Tagen keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte. Sein Magen knurrte. Aber bevor er sich an den sauberen gedeckten Tisch der Witwe setzen konnte, musste er sich die Hände waschen und seinen schweren Wollmantel ablegen.
Rasch stieg er die schmale, knarrende Holztreppe in den ersten Stock empor. Vor seiner Kammer suchte er nach dem Schlüssel und fand ihn im Geldbeutel, steckte ihn geschickt ins Schlüsselloch und sperrte auf. Knarrend öffnete sich die Tür, und Marek wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Ein fremdländischer Moschusgeruch lag schwer in der Luft und überdeckte den köstlichen Duft der Kohlrouladen. Es war Parfum, das er nie benutzte. Ob die Witwe in der Kammer gewesen war und aufgeräumt hatte? Aber der Geruch war zu herb für eine Frau. Er passte eher zu einem Mann. Einem, der wohlhabend genug war, sich teures Parfum zu leisten.
In Mareks Kammer gab es bloß ein winziges Fenster, deshalb war es hier immer finster, auch wenn draußen die Sonne schien. Als Gelehrter, der viel schrieb und las, ging ein erheblicher Teil seines Gehalts in teuren Wachskerzen auf. Marek suchte im Dunkel nach einer Kerze und seinem Zündzeug. Er hörte weder die leisen Bewegungen noch das Zischen des Pfeils. Aber er spürte deutlich, wie etwas Spitzes in seinen Rücken eindrang. Hastig drehte er sich um und sah noch den Schatten eines Mannes, der aus seiner Kammer floh und bemerkenswert leise die Treppe hinunterrannte. Marek wollte ihm folgen, aber es gelang ihm nicht. Bleischwer sackte er zusammen und blieb am Boden liegen, völlig unfähig, sich zu rühren.
Tödliches Gift, diese Worte durchzuckten ihn mit der gleichen Intensität wie der Schmerz, der seine Muskeln lähmte. Es war eines der vielen Geheimnisse, die das Reisetagebuch hütete. Er hatte den Hinweis nicht ernst genommen, hatte geglaubt, dass es kein Gift geben konnte, das binnen kurzer Zeit den gesamten Organismus lahmlegte. Nun wusste er es besser, aber es war zu spät. Er konnte niemandem mehr davon erzählen.
In den nächsten Stunden würde sein Tod eintreten, und er würde qualvoll sein. Irgendwann würde die Atmung aussetzen, und er konnte nichts dagegen tun. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Augen zu schließen. Gut, dass es in der Kammer so düster war. Marek wollte nichts mehr sehen außer den Bildern, die seine Erinnerung ihm lieferte. Sein Gehirn arbeitete weiter so intensiv wie zuvor. Das entschlossene und dennoch weiche Gesicht seiner Tochter tauchte vor ihm auf. Das, wovor er sich immer gefürchtet hatte, trat nun ein: Er fühlte Reue.
Wie viel kostbare Zeit mit Jana hatte er gedankenlos verschenkt, indem er ständig vor ihr geflüchtet war? Jetzt war es zu spät, er würde seine Tochter nicht wiedersehen. Sie würde keine Gelegenheit bekommen, sich von ihm zu verabschieden. Selbst im Tode hatte er als Vater versagt. Das Einzige, was sie als sein Erbe in den nächsten Tagen erhalten würde, war das kostbare Buch, für das er nun sterben musste. Es war auf dem Weg nach Prag.
Jana war klug und umsichtig, bestimmt würde sie erkennen, um welchen Schatz es sich handelte. Mit etwas Glück würde sie es an die richtigen Personen weitergeben.
Vielleicht würde es einem der Prager Wissenschaftler gelingen, das Rätsel zu lösen? Marek verdrängte den Gedanken an das Buch und bemühte sich erneut, Janas schönes Antlitz vor sich zu sehen, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen tauchte nun Anna vor seinem inneren Auge auf. Wie sehr hatte er sich in den vielen Jahren der Trauer
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