Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
der Erde.« Die Stimme des alten Mannes wurde mit jedem Wort leiser. Er war sehr viel älter als Marek, bestimmt hatte er geglaubt, vor seinem Bruder die Welt zu verlassen.
»Aber er hat mir gerade noch ein Päckchen geschickt!« Jana hielt das kleine, in dunkles Papier gewickelte Paket umschlungen und presste es nun fast schmerzhaft fest an die Brust, so als wäre es ein Beweis dafür, dass Marek noch am Leben war.
»Vielleicht hat er es schon Tage vor seinem Tod versandt. Nicht alle Boten reiten gleich schnell.«
Karel hatte recht, es gab Boten, die warteten, bis sie mehrere Briefe zu transportieren hatten, ehe sie losritten. Der Brief im Päckchen würde Gewissheit darüber verschaffen, auch wenn es überhaupt nicht mehr wichtig war. Marek war tot.
Jana fühlte sich mit einem Schlag so allein wie nie zuvor in ihrem Leben. Bedrich war fort und ihr Vater nicht mehr am Leben. Der dicke Kloß in ihrem Hals ließ sich nicht hinunterschlucken, er steckte fest und nahm ihr die Luft zum Atmen.
»Du wirst hier immer ein Zuhause haben, Jana. Und wenn du erst mit Tomek verheiratet bist, werden die Apotheke und das Haus irgendwann auch dir gehören. Radomila und ich werden dir gute Schwiegereltern sein. Es wird dir an nichts fehlen.«
Die Worte, die Trost spenden sollten, machten Janas Elend nur noch größer. Sie wollte weder Tomek zum Mann noch Radomila zur Mutter. Schließlich konnte sie sich nicht mehr gegen die Tränen zur Wehr setzen. Salzig, warm und schwer liefen sie ihr über die Wangen, tropften ihr auf die Brust und fielen in ihren Schoß, wo das Päckchen des Vaters lag. Sie brachte kein Wort heraus, weinte nur tonlos. Nach einer schier endlosen Zeit stand sie auf und sagte: »Danke, Onkel Karel. Ich werde jetzt in meine Kammer gehen und Vaters Brief lesen.«
Obwohl der Onkel die letzten Worte seines Bruders gerne gehört hätte, nickte er müde. Jana flüchtete mit schnellen Schritten aus der Apotheke, lief durch die Küche, hinauf in die Stube und schließlich in ihre Kammer.
Dort ließ sie sich auf ihr Bett fallen und begann erneut zu weinen. Diesmal schluchzte sie so laut, dass selbst die Tauben auf dem Dach irritiert die Köpfe hoben. Jana bemerkte es nicht. Sie schrie ihre Verzweiflung in ihr Kopfkissen, der Kloß im Hals löste sich, und sie schluckte ihn hart hinunter. Doch kaum war er weg, bildete sich ein neuer. Jana fühlte sich so elend wie nie zuvor.
Selbst beim Tod ihrer geliebten Mutter war sie nicht in ein so tiefes schwarzes Loch der Verzweiflung gestürzt. Damals war ihr völlig überforderter Vater förmlich aus Prag geflüchtet und hatte in Bologna einen Lehrstuhl übernommen. Jana hatte geweint, aber immer darauf gehofft, dass er wieder zurückkehren würde.
Aus dieser Hoffnung hatte sie in den letzten Jahren ihre Kraft geschöpft. Nun gab es keine Kraftquelle mehr. Es gab überhaupt nichts mehr, woran sie sich festhalten konnte. Nur noch die festgeschriebene Zukunft mit Tomek, an dessen Seite sie ein unglückliches Leben führen würde. Sie würde in der Apotheke Medizin mischen und verkaufen, ihm viele kräftige Söhne gebären und jeden Abend ein köstliches Essen auf den Tisch zaubern. Er selbst würde weiter für Graf von Thurn arbeiten und sich mit vielen anderen Frauen vergnügen. Wobei das Letztere wohl das geringste Übel war, dann musste Jana wenigstens nicht jede Nacht ihre ehelichen Pflichten erfüllen. Allein der Gedanke an so ein Leben führte zu neuerlichen lauten Weinkrämpfen.
Irgendwann – draußen wurde es bereits dunkel – hatte Jana keine Tränen mehr. Eine große Leere machte sich in ihr breit, die noch schlimmer war als die Traurigkeit.
Mit zitternden Händen griff sie schließlich nach dem Päckchen und öffnete es. Ein goldenes Schmuckstück an einem einfachen Lederband fiel auf die helle Decke auf ihrem Bett. Jana hob es auf. Es wog schwer und fühlte sich kalt an auf ihrer heißen Hand. Seltsame Zeichen waren darauf zu sehen, und eine Schlange mit Federn. Oder war es eine Sonne? Jana konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches gesehen. Das Schmuckstück musste aus einer anderen Welt stammen, einer, die Jana nicht kannte. Augenblicklich war ihr Interesse geweckt, und die beängstigende Leere in ihr füllte sich mit Neugier.
Behutsam legte sie das Schmuckstück zur Seite und faltete die Umhüllung des Pakets auseinander. Ein in abgegriffenes Leder gebundenes Buch kam zum Vorschein. Vorsichtig, fast ehrfurchtsvoll schlug
Weitere Kostenlose Bücher