Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
Jana es auf. Es enthielt handschriftliche Aufzeichnungen in einer Sprache, die Jana nicht verstand. War das überhaupt eine Sprache? Sie blätterte weiter. Da war eine Zeichnung, es handelte sich um eine Landkarte. Aber die Buchstaben daneben ergaben keinen Sinn, das Ganze sah aus, als hätte jemand die Wörter in einen Würfelbecher gesteckt und kräftig durchgeschüttelt. Jana hob das Buch aus dem Papier und legte es neben das Schmuckstück. Unter dem Buch befand sich endlich auch der Brief ihres Vaters. Ihre Hände waren feucht, als sie danach griff.
Der vertraute Schriftzug löste erneut eine Welle der Traurigkeit in ihr aus. Jana schluckte die salzigen Tränen hinunter.
Meine liebste Jana, in meinem letzten Brief habe ich Dir von dem Buch erzählt, das ich einem alten Seefahrer abgekauft habe. Die letzten Tage habe ich dazu genutzt, die Schrift zu enträtseln, und bin dabei zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen Wegweiser zu wertvollem Wissen handeln muss. Ich habe eine Abschrift davon erstellt und werde mich mit diesem Duplikat auf die Reise nach Frankreich machen. Das Original lege ich in Deine Hände, weil ich weiß, dass es dort in Sicherheit ist. Ebenso sende ich Dir das Schmuckstück, das ich gemeinsam mit dem Buch erworben habe und von dem ich glaube, dass es in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schrift steht. Falls mir auf meiner Reise etwas zustoßen sollte, so weiß ich, dass Du in Prag gut aufgehoben bist.
Ich bitte Dich, im Falle meines Todes das Buch und das Schmuckstück an ein vertrauenswürdiges Mitglied der Universität weiterzugeben. Ich denke dabei an einen Mann der Wissenschaft, der wie ich sein Leben dem Streben nach Wissen geweiht hat und nicht der Gier nach Reichtum und Ruhm verfallen ist. Ich vertraue auf Deinen Verstand. Auf der letzten Seite des Buches findest Du einen Schlüssel zur Schrift, aber weder der Schlüssel noch die Schrift selbst sind vollständig. Ich nehme an, dass sich die beiden fehlenden Teile in großen Jesuitenklöstern in Dijon und Bordeaux befinden. Dorthin werde ich mich aufmachen. Mehr konnte ich in der kurzen Zeit nicht herausfinden.
In größter Liebe, Dein Vater Marek Jeschek.
Während des Lesens waren Janas Tränen endlich versiegt. Wie hatte sich ihr Vater die Übergabe an einen ehrbaren Wissenschaftler vorgestellt? Sollte Jana in die Universität hineinspazieren und fragen: »Wer von Euch will ein kostbares, seltenes Manuskript enträtseln und ist selbstlos genug, es bloß des Wissens wegen zu tun?« Sie würde mit ihrem Auftritt ganz sicher eine Menge gelehrter Männer zum Lachen bringen und den Doktoren einen unterhaltsamen Nachmittag bescheren.
Außerdem würde irgendjemand dafür sorgen, dass ihr als Frau das Manuskript rasch weggenommen wurde, um es in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Das wollte Jana um jeden Preis verhindern. Sie hatte bereits genug Opfer für die Wissenschaft gebracht, genaugenommen ihre ganze Kindheit lang, die ihr Vater gelehrt und geforscht hatte, anstatt bei ihr zu sein. Nun war endgültig Schluss damit. Jana wollte die Sache selbst in die Hand nehmen.
Vorsichtig faltete sie den Brief zusammen und widmete sich wieder dem Buch. Tatsächlich befand sich auf der letzten Seite ein Blatt Papier, das die Handschrift ihres Vaters trug. Ähnlich wie bei einer Rechnung standen dort Buchstaben, Istgleichzeichen und dahinter weitere Buchstaben. Offensichtlich war das ein Teil des Geheimnisses, das Marek entschlüsselt hatte.
Sofort versuchte Jana, den Schlüssel anzuwenden. Sie holte Papier und Tinte aus ihrem kleinen Schreibpult, schrieb willkürlich Wörter aus dem Buch ab und setzte neben die scheinbar ungeordneten Zahlen und Zeichen jene Buchstaben, die sich aus dem Schlüssel ihres Vaters ergaben.
Leider formten sich nur lateinische Wörter auf dem Papier. Jana hatte als Mädchen zwar etwas Latein gelernt und brauchte in der Apotheke immer wieder lateinische Begriffe aus der Pflanzen- und Heilkunde, doch flüssiges Alltagslatein, in dem die Wissenschaftler ganze Bücher lasen, verstand sie kaum.
Verärgert über ihre Wissenslücken legte Jana den Schlüssel zurück ins Buch. Sie packte alles wieder zusammen und überlegte, wer ihr helfen konnte. Nur ein einziger Name fiel ihr ein, und der erfüllte sie mit gemischten Gefühlen: Doktor Conrad Pfeiffer.
5
D IE HOCHSTEHENDE F RÜHSOMMERSONNE schien hell auf das Pergament, das vor Doktor Pfeiffer auf dem Tisch lag. Es fiel dem Gelehrten schwer, den Blick auf die
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