Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
merkte sie, dass der Arzt zurückgefallen war.
Jana ließ Marie stehen bleiben und drehte sich zu ihm um.
»Bin ich zu schnell?«, fragte sie sarkastisch. »Bis jetzt habt Ihr immer gejammert, ich sei zu langsam.«
Pfeiffer verdrehte genervt die Augen. Jana sah nun, dass es ihm nicht gutging. Sein Gesicht war nicht mehr bloß blass, sondern hatte einen ungesunden grünen Farbton angenommen.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Sollen wir eine Pause einlegen?«, erkundigte sie sich ernsthaft besorgt.
»Nein … äh, ja … vielleicht«, stotterte der Wissenschaftler.
»Wir halten hier an«, bestimmte Jana. Die neue Rolle gefiel ihr. Sie warf einen prüfenden Blick auf Doktor Pfeiffers Wange. Sie hätte sich gleich um die Wunde kümmern sollen, aber der überhebliche Arzt hatte ihre Hilfe abgelehnt. Jetzt würde sie ihn dazu zwingen, sich von ihr behandeln zu lassen, ganz egal, wie sehr er sich dagegen wehrte.
»Das ist ein guter Ort für eine Pause«, sagte sie entschieden. »Die dichten Wälder sind voll mit frischen Kräutern. Ich werde sehen, was sich aus Wasser, Holunderblüten, Erdbeeren und Brennnesseln machen lässt.« Angewidert verzog der Arzt sein Gesicht.
»Vielleicht gelingt es mir sogar, einen Fisch zu fangen«, ergänzte Jana trotzig.
»Vielleicht«, meinte Pfeiffer müde.
Eine Stunde später saßen sie bei einem kleinen Feuer, über dem ein Fisch brutzelte, von dem beide nicht sicher wussten, ob er genießbar war. Gefüllt war er mit frischen Brennnesseln und wildem Knoblauch, daneben kochte ein Topf mit klarem Wasser und Holunderblüten. Außerdem lagen saftige Walderdbeeren neben der Feuerstelle. Jana hatte Doktor Pfeiffers Wunde mit kaltem Wasser gesäubert und sie mit warmen, sauberen Huflattichblättern bedeckt. Außerdem hatte sie zahlreiche weitere Heilkräuter gesammelt und sie zum Trocknen an ihren Reisesack gehängt.
Mit geschlossenen Augen lag Pfeiffer neben dem Feuer und summte friedlich vor sich hin. Nach einer Weile meinte er versöhnlich: »Das Buch Eures Vaters ist faszinierend. Je länger ich es studiere, umso klarer wird mir, dass es sich tatsächlich um ein Stück eines sehr wertvollen Textes handelt.«
Vorsichtig setzte der Arzt sich auf und stützte sich lässig auf seinen Unterarm. Hätte er Jana nicht so selbstgefällig angeschaut, hätte sie ihn attraktiv finden können. Das rotblonde Haar fiel ihm leicht gewellt in die Stirn, und seine türkisblauen Augen machten dem Maihimmel Konkurrenz.
»Die Sache mit dem muskellähmenden Gift finde ich besonders interessant. Wenn es stimmt und man damit die Muskeln der Patienten für einige Zeit lähmen kann, könnte man Operationen durchführen, ohne dass der Patient sich bewegt. Leider bin ich mir nicht ganz sicher, ob das tatsächlich möglich wäre, da ich ja bloß einen Teil des Textes in der Hand habe.«
»Was hilft es, wenn ich mich nicht bewegen kann, dafür aber alles spüre, was mit meinem Körper gemacht wird?« Jana stellte sich vor, sie läge auf einem Operationstisch, könnte sich nicht wehren und spürte, wie der Arzt in ihr Bein schnitt. Allein der Gedanken daran verursachte Übelkeit.
»Es gibt Substanzen, die den Geist so benebeln, dass man die Schmerzen nicht fühlt«, meinte Pfeiffer.
»Woran denkt Ihr?«
»Opium, aber auch Alkohol.«
»Warum braucht ihr trotzdem das Muskelgift?«
»Weil die Patienten sich dennoch bewegen. Wenn man die Bauchdecke eines Menschen öffnet, kann schon ein kleiner falscher Schnitt verheerende Folgen haben.«
Jana begann zu verstehen. Dennoch wollte sie das Bild von geöffneten Bauchdecken rasch wieder verscheuchen. Viel lieber genoss sie die friedliche Landschaft, die sich vor ihnen erstreckte.
»Bei all Euren Überlegungen vergesst Ihr, dass es sich bei dem Buch um den Besitz meines Vaters handelt«, sagte Jana. Es war wohl nicht der beste Augenblick, ihm ihr Vorhaben zu erläutern, aber sie war sich nicht sicher, ob es einen besseren geben würde.
»Was wollt Ihr mir damit sagen?«, fragte Pfeiffer.
»Mein Vater ist tot, und das Buch gehört nun mir.«
»Und?« Pfeiffer zog das Wort in die Länge und verlieh ihm den Charakter einer Frage.
»Ich will mit Euch nach Dijon reisen, um herauszufinden, wie mein Vater gestorben ist«, sagte Jana ohne weitere Umschweife.
»Wenn Ihr das erfahren wollt, solltet Ihr nach Heidelberg reisen und nicht nach Dijon«, erwiderte Pfeiffer trocken.
»Das Buch ist der Schlüssel zum Tod meines Vaters, das wisst Ihr sehr genau.«
Der Arzt war
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