Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
Offensichtlich hatten alle die Frau geschätzt.
Das Dorf war fast menschenleer. Die Männer und Frauen arbeiteten auf den Feldern, während die Alten auf die Kinder aufpassten. Der Dorfälteste freute sich, als er die Schauspieler kommen sah. Er hatte heute Namenstag, und sie durften ihre Bühne auf dem kleinen Dorfplatz vor der winzigen gemauerten Kirche mit dem dunklen Holzturm aufbauen. Ludwig entschied sich für ein lustiges Schelmenstück, und als die Menschen müde von den Feldern nach Hause kehrten, gab es niemanden, der sich nicht über die Abwechslung im harten Alltag freute. Man setzte sich auf grobgezimmerte Holzbänke oder einfach ins Gras und gab sich dem ungewohnten Vergnügen hin. Viele lachten vor Begeisterung, und nach der Vorstellung gab es so viel Applaus, freudige Zurufe und Kinderjohlen wie selten zuvor.
Ein Dorfbewohner holte ein merkwürdiges Instrument herbei, das Tasten hatte, aber zugleich ständig auseinandergezogen und wieder zusammengedrückt wurde. Damit stimmte er eine knarrende Melodie an, zu der die Menschen sofort zu tanzen begannen. Jenseits vom sonst so strengen Kalender, in dem nur hohe Kirchenfeiertage mit Musik und Tanz gefeiert wurden, begann ein kleines Fest.
Auch Jana tanzte. Der einfältige Kasper hatte ihre Hände gepackt, und nun drehte sie sich mit ihm im Kreis, so lang und so schnell, bis ihr schwindlig wurde und die Kirchturmspitze zu taumeln schien. Aus den Augenwinkeln sah sie den Arzt, der im Schatten eines Nussbaums saß und sie beobachtete. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, stellte sich aber vor, dass er missbilligend war.
Nach dem Tanz wurde in Naturalien bezahlt. Bedrich zauberte aus den Feldfrüchten und dem Fleisch von Hühnern und Kaninchen mit Hilfe der Dorffrauen ein Festmahl, an dem alle teilnahmen. Was übrig blieb, wanderte in den Proviantwagen der Schauspieler. Das improvisierte Fest dauerte bis spät in die Nacht, und die Truppe übernachtete schließlich am Dorfrand.
Am nächsten Morgen sah Jana heimlich Bedrich beim Aufstehen zu. Wie immer erwachte er spät, lang nach den anderen, und rappelte sich tatsächlich mühevoll auf. Wie ein alter Mann stützte er sich erst auf die Knie und hievte sich dann zum Stehen hoch.
In diesem Moment kam Pfeiffer vorbei. Er beugte sich eine Spur zu nah zu Jana und stichelte: »Ich hatte recht, wie immer.«
Jana lief rot an, als hätte er sie bei etwas Unanständigem ertappt. »Manche Menschen brauchen morgens eben länger zum Munterwerden«, sagte sie schnippisch.
»In ein paar Jahren wird er dazu Stunden brauchen«, bemerkte Pfeiffer und grinste.
Nach dem Frühstück zog die Truppe weiter, doch zuvor entlockte der Dorfälteste den Schauspielern das Versprechen, dass sie im nächsten Jahr wiederkommen würden.
Das warme Sommerwetter hatte angehalten, und Antonio plante für heute eine längere Tagesetappe. Dank der gelungenen Vorstellung hatten sie genug Proviant, um einige Tage ohne Auftritt zu überstehen. Antonio schlug einen schmalen Weg ein, der einen steilen Hang hinaufführte.
»Wäre es nicht besser, wir würden weiterhin den Fluss entlangreiten?«, fragte Doktor Pfeiffer und sah skeptisch den Hang hinauf.
»Leider nein, denn der Weg dort wird immer schmaler und felsiger. Hier müssen wir zwar zunächst steil nach oben, kommen dann aber über ein Hochplateau schnell voran. Dort gibt es auch hervorragende Plätze zum Übernachten«, erwiderte der alte Mann aus dem Süden.
Da Antonio in den letzten Wochen immer recht behalten hatte, widersprach ihm nicht einmal Pfeiffer, und alle Gespanne folgten seinem bunten Wagen, auf dessen Seitenwänden in großen rot-goldenen Buchstaben »Antonios Schauspieltruppe« stand. Die Schrift war ebenso bunt wie die Truppe selbst.
Schon nach kurzer Zeit veränderte sich die Landschaft. Das satte Grün wich einem trockenen Gelbgrün. Jana entdeckte Blumen und Pflanzen, die sie nie zuvor gesehen hatte. Trotz Doktor Pfeiffers Genörgel war sie immer noch dabei, Pflanzen, deren Heilkraft sie kannte, zu sammeln und mitzunehmen. Ludwig, der sich für alles Schöne auf der Welt interessierte, klärte sie auf: »Dort hinten seht Ihr eine Silberdistel, und das da, das ist eine Form des Enzians. Im Hochgebirge findet Ihr besonders schöne Exemplare in Dunkelblau, Gelb und Violett.«
Während er weitersprach, hörte Jana auf einmal ein lautes Knacken von Holz. Kurz dachte sie an einen abgebrochenen Ast, doch da quietschten Räder, ein Pferd wieherte aufgeregt,
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