Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
Obenauf lag das Reisetagebuch des Jesuiten, das sie selbst in Pfeiffers Hände gelegt hatte. Sie suchte weiter und stieß auf weitere Pergamentseiten. Wie viele Bücher führte dieser Mann eigentlich mit sich? Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Dokument, und ihr Atem stockte. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches gesehen.
Es handelte sich um eine ihr völlig fremde Schrift, ähnlich den Zeichen, die Marco Polo aus China mitgebracht hatte. Das Pergament, auf dem die Zeichen geschrieben standen, war wertvoll. Vermutlich hielt Jana gerade ein kleines Vermögen in den Händen. Vorsichtig blätterte sie die Bögen durch. Die Schriftzeichen waren fein säuberlich auf das kostbare Pergament gesetzt worden, völlig fehlerfrei. Der Schreiber hatte nie zum Messer greifen müssen. Die Illustrationen erinnerten sie an Darstellungen aus alten Pflanzen- und Anatomiebüchern, aber sie waren dennoch anders, denn sie zeigten Dinge, die Jana nicht kannte. Woher hatte Pfeiffer bloß diese Schrift? Gab es einen Zusammenhang zwischen den Pergamentbögen und dem Buch ihres Vaters? Vielleicht ging es um etwas, was Pfeiffer in München oder gar schon in Prag herausgefunden hatte? Und ihr hatte er nichts davon gesagt, weil sie ja bloß eine Frau war und in seinen Augen nicht klar denken konnte. Bestimmt wollte er das Geheimnis allein lösen, ohne sie! Wut und Ärger erfassten Jana und nahmen ihr für einen Moment lang die Luft zum Atmen.
Da hörte sie hinter sich Antonio fluchen, und endlich erinnerte sie sich wieder an ihren eigentlichen Auftrag. Sie sollte Pfeiffers Instrumente holen. Voll Bedauern steckte sie das Bündel zurück in die Tasche und suchte weiter. Endlich fand sie den Ledersack, zog ihn heraus und rannte damit zurück zu den anderen. Ihre Gedanken rasten, als sie Pfeiffer den Lederbeutel in die Hand drückte.
»Danke«, sagte der Arzt mit einem Nicken, er bemerkte ihren ärgerlichen Blick nicht. Seine Aufmerksamkeit gehörte ausschließlich Kaspers Wunde. Er griff nach seinem Ledersack und öffnete ihn. Behutsam holte er ein Instrument nach dem anderen hervor. Ein sehr feines, spitzes Messer, ein Skalpell, eine Schere, mehrere Nadeln, eine Pinzette, eine Feile und zu Janas großem Entsetzen auch eine Säge, die sich kaum vom Instrument eines Zimmermanns unterschied. Das Bild einer Amputation, das vor Janas innerem Auge auftauchte, war abstoßend und gruselig. Es verdrängte alle Gedanken über Schriften, Geheimnisse, mögliche Diebstähle und damit verbundene Lügen. Jana hoffte inständig, dass der Arzt die Säge nicht verwenden musste.
»Wir brauchen zwei starke Männer, die Kasper halten«, sagte Pfeiffer.
»Aber der Bursche schläft tief und fest«, meinte Bedrich.
»Glaubt mir, sobald ich sein Bein berühre, wird er trotz des Alkohols schreien, als hätte sein letztes Stündchen geschlagen.«
»Ich kann das nicht«, sagte Bedrich und schüttelte den Kopf. Sein sonst so rosiges Gesicht hatte einen grünlichen Farbton angenommen.
»Ich werde ihn halten«, meinte Ludwig.
»Ich auch!« Antonio trat von der anderen Seite an den Verletzten heran, kniete sich neben ihn und hielt seinen Oberarm fest. Nur widerwillig stand Rosa auf und machte einen Schritt zur Seite.
»Jana?« Doktor Pfeiffer sah sich suchend um.
»Ich bringe noch Wasser zum Kochen«, sagte sie. »Wenn alles sauber sein soll, kann es nur von Vorteil sein, wenn die Instrumente vorher in heißem Wasser gewaschen werden.«
Pfeiffer war einverstanden, beugte sich über Kasper und schnitt die Reste des Hosenbeins weg. Der Stoff klebte in der Wunde, und Pfeiffer holte mit seiner Pinzette Stück für Stück heraus. Kasper stöhnte und wand sich, aber Antonio und Ludwig drückten ihn mit aller Kraft auf den Boden.
Um sich ebenfalls hilfreich zu zeigen, hatte Bedrich es in Windeseile geschafft, ein Feuer zu entfachen und Wasser für Jana zu erhitzen. Nun kam sie mit den sauberen Instrumenten zurück und brachte noch ein Stück Holz mit, das sie Kasper in den Mund schob. Noch bevor Antonio fragen konnte, erklärte sie: »Damit er sich die Zunge nicht abbeißt.«
Währenddessen sah sich Pfeiffer suchend um. Sein Blick blieb an Rosa hängen, die direkt neben ihm stand: »Könnt Ihr Euch auf den Brustkorb Eures Sohnes knien?«
Rosa nickte. Sie wollte gerade in die Knie gehen, da begann sie zu schwanken und verdrehte die Augen, so dass nur noch das Weiße zu sehen war.
»Sie fällt um!«, rief Jana und sprang herbei. Im letzten Moment bekam sie Rosa zu
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