Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
und der Wagen, der hinter ihnen fuhr, kippte laut krachend auf eine Seite. Zugleich vernahm sie einen beinahe unmenschlichen Schrei, so hoch und schmerzlich, dass ihr ein eiskalter Schauder über den Rücken lief.
Jana riss ihr Pferd herum und hatte Mühe, Marie zu beruhigen. Zum Glück hatte sich das Tier inzwischen so sehr an Jana gewöhnt, als hätte es nie einen anderen Besitzer gekannt. Dann lenkte Jana die Stute zurück zur Unfallstelle.
Der umgestürzte Wagen war der von Rosa und Kasper. Rosa war bereits abgesprungen, offenbar war ihr nichts passiert, aber sie hielt beide Hände auf den offenen Mund gepresst, und schieres Entsetzen stand in ihren dunkelgrünen Augen.
Unter der Sitzbank des Wagens lag eingeklemmt ihr Sohn. Er schrie und brüllte so verzweifelt wie ein verletztes Tier.
Nun kamen auch Antonio und die anderen.
»Kommt, packt mit an!«, rief der alte Mann entschlossen und fasste an einem Ende des umgekippten Wagens an. Bedrich, Pfeiffer und Ludwig mühten sich ebenfalls. Doch es war zwecklos, ohne Hilfe eines Pferdes würden sie es nicht schaffen, den Wagen anzuheben.
Rosa kniete jetzt weinend neben ihrem Sohn, der die Augen verdrehte. Unterdessen war Antonio zu seinem Wagen gelaufen, hatte ein Seil geholt und es seinem Pferd umgebunden. Das andere Ende befestigte er am Wagen, und die Männer versuchten noch einmal, das umgekippte Gefährt hochzuhieven.
»Corri, mia bella!« , flehte Antonio sein Pferd an und gab dem Tier einen Klaps. Es zog an, und nun schafften es die Männer, den Wagen in einem einzigen Schwung auf die Räder zu stellen.
Doch beim Anblick von Kaspers Verletzung mussten sich die meisten der Anwesenden schnell wegdrehen. Der Wagen hatte Kaspers Bein nicht nur grausam verdreht, es war so schlimm gebrochen, dass ein Teil des Knochens aus dem Fleisch ragte. Bedrich schnaufte heftig, lief zum nächsten Gebüsch und übergab sich. Rosa starrte das Bein ihres Sohnes entsetzt an und weinte still. Ihr Gesicht war grau und kreidebleich, sie sah um Jahre gealtert aus.
»O mein Gott«, sagte Jana und sog lautstark die Luft ein.
Antonio schluckte, wandte sich an Doktor Pfeiffer und sagte trocken: »Nun könnt Ihr beweisen, dass es nicht sinnlos war, Euch die ganze Reise lang durchzufüttern.« Offenbar fiel es ihm leichter, das Entsetzen über den Unfall zu ertragen, wenn er den Arzt angriff.
»Antonio, mach dich nicht lächerlich, da kann man gar nichts mehr ausrichten. Der Arzt muss das Bein abschneiden«, flüsterte Ludwig. Er hatte, wie er Jana erzählt hatte, einst in der Armee gedient, bestimmt hatte er zahlreiche Verletzungen wie diese gesehen. Vielleicht hatten die schrecklichen Kriegserlebnisse dazu geführt, dass er sich inzwischen nur noch mit dem Schauspiel und mit den schönen Dingen im Leben beschäftigen wollte.
Rosa, die sein Flüstern verstanden hatte, heulte laut auf. »Nein, das lass ich nicht zu! Kasper hat es so schon schwer genug im Leben, wie soll er es einmal ohne mich schaffen, wenn er nur noch ein Bein hat?«
»Ohne dich wird Kasper …« Antonio beendete den Satz zum Glück nicht. Alle wussten, dass Kasper immer auf die Hilfe anderer angewiesen sein würde, um nicht von skrupellosen, geldgierigen Menschen schamlos ausgenutzt zu werden. Aber Rosa wollte und konnte das nicht hören.
Nun näherte Doktor Pfeiffer sich dem Verletzten. Kaum hatte er das Bein berührt, begann Kasper wieder so laut zu brüllen wie vorhin, als der Wagen noch auf ihm lag. Er schlug wie wild um sich und machte seine Verletzung damit nur noch schlimmer.
»So kann ich gar nichts tun«, sagte Pfeiffer knapp und wandte sich an Antonio. »Bringt mir Euren gesamten Vorrat an Schnaps.«
»Was habt Ihr vor?«
»Ich werde den jungen Mann mit Alkohol und Opium ruhigstellen. Erst dann kann ich ihn untersuchen.«
Antonio nickte und lief zu seinem Wagen. Rosa kniete jetzt neben ihrem Sohn, ganz vorsichtig bettete sie seinen Kopf in ihren Schoß. Kasper heulte nun wie ein kleines Kind, und seine Mutter flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr und summte eine alte Schlafmelodie.
Kurz darauf kam Antonio mit einer Flasche Schnaps zurück. Unterdessen hatte Doktor Pfeiffer einen kleinen Holzkasten aus seinem Reisesack geholt, in dem er Opiumkugeln aufbewahrte. Er reichte Rosa drei davon und bat sie, die Kugeln ihrem Sohn unter die Zunge zu legen.
Doch Kasper drehte den Kopf weg und begann erneut zu schreien. Dabei bewegte er versehentlich sein Bein, was offenbar so viel Schmerz verursachte,
Weitere Kostenlose Bücher