Das sündige Viertel
satt.«
Daraufhin entnahm Horizont seinem Reisekorb ein Huhn, gekochtes Fleisch, Gurken und eine Flasche Palästinawein, er aß gemächlich und mit Appetit, bot auch seiner Frau an, die geziert speiste, die kleinen Finger ihrer hübschen weißen Hände abspreizend, dann wickelte er die Reste sorgsam in Papier und verstaute sie ohne Eile wieder akkurat im Korb.
In der Ferne, weit vor der Lokomotive, blitzten schon goldene Kirchenkuppeln. Der Kondukteur ging am Abteil vorüber und gab Horizont unauffällig ein Zeichen. Dieser folgte ihm sogleich auf den Perron.
»Gleich kommt die Kontrolle«, sagte der Kondukteur. »Seien Sie so gut und bleiben Sie so lange mit Ihrer Frau auf dem Perron der dritten Klasse stehen.«
»Hm, hm, hm!« stimmte Horizont zu.
»Und jetzt bitte das Geld, wie vereinbart.«
»Wieviel kriegst du?«
»Wie wir es abgemacht haben: die Hälfte des Zuschlages, zwei Rubel und achtzig Kopeken.«
»Was?« brauste Horizont plötzlich auf. »Zwei Rubel achtzig? Ich bin doch nicht verrückt! Hier hast du einen Rubel, und danke Gott!«
»Verzeihung, mein Herr! So geht das aber wirklich nicht. Wir hatten schließlich eine Abmachung!«
»Abmachung, Abmachung! Hier hast du noch einen halben Rubel, und damit genug. Was für eine Frechheit! Ich werde dem Kontrolleur sonst mitteilen, daß du Schwarzfahrer mitnimmst. Bilde dir bloß nichts ein, Freundchen! Mit mir ist nicht zu spaßen!«
Die Augen des Kondukteurs weiteten sich, das Blut stieg ihm zu Kopfe.
»Ah! Judenpack!« brüllte er. »Dich müßte man nehmen, Kerl, und untern Zug schmeißen!«
Aber Horizont fiel sofort über ihn her: »Was? Unter den Zug? Weißt du denn, was auf solche Worte steht? Das ist ja Gewaltandrohung! Gleich ziehe ich die Notbremse und rufe um Hilfe!« Und er griff mit so entschiedener Geste zum Türgriff, daß der Kondukteur nur abwinkte und ausspie.
»Ersticke doch an meinem Geld, räudiger Jude!«
Horizont rief seine Frau aus dem Abteil: »Sarotschka! Komm auf den Perron, von hier können wir besser sehen. Ach, wie schön – wie gemalt!«
Sara folgte ihm gehorsam, mit ungeschickter Hand das neue Kleid, das sie wahrscheinlich zum erstenmal trug, raffend, um nur nicht Tür oder Wand damit zu streifen.
Weit vorn, im festlichen rosa Dunst der Abendröte, glänzten goldene Kuppeln und Kreuze. Die schlanken weißen Kirchen hoch oben auf dem Hügel schienen inmitten dieses zauberhaften bunten Nebelschleiers zu schweben. Wald und Gebüsch kräuselten sich hangabwärts bis hin zur weißen Steilwand, deren Fuß der blaue Fluß umspülte und die unregelmäßig, wie von grünen Äderchen und Warzen, von jungem Grünbewuchs gesprenkelt war. Die märchenhaft schöne alte Stadt schien dem Eisenbahnzug entgegenzukommen.
Als der Zug hielt, befahl Horizont dem Gepäckträger, die Sachen in den Wartesaal erster Klasse zu bringen, und seine Frau wies er an, dem Träger zu folgen. Er selbst blieb am Ausgang stehen, um seine beiden Transporte vorüberzulassen. Der Alten, die das Dutzend Frauen beaufsichtigte, rief er im Vorbeigehen kurz zu: »Also vergessen Sie nicht, Madame Bärmann: Hotel ›Amerika‹, Iwanjukowskaja-Straße zweiundzwanzig!«
Und zu dem schwarzbärtigen Mann sagte er: »Denken Sie daran, Laser, daß die Mädchen ein warmes Essen bekommen, und führen Sie sie in ein Kino. Gegen elf Uhr abends können Sie mich erwarten. Dann werden wir alles bereden. Und falls mich jemand außer der Reihe zu sprechen wünscht, wissen Sie ja meine Anschrift: ›Eremitage‹. Rufen Sie an. Sollte ich dort nicht zu erreichen sein, dann kommen Sie ins Café Reimann oder in die jüdische Speisegaststätte gegenüber. Dort esse ich Fisch. Also, alles Gute!«
3
Alles, was Horizont über seine Tätigkeit als Handlungsreisender erzählt hatte, war einfach frech erlogen. All diese Schneidereiartikel, Gloire-Hosenträger und Helios-Knöpfe, all diese künstlichen Zähne und Glasaugen dienten nur als Tarnung für sein wirkliches Gewerbe, nämlich den Handel mit dem weiblichen Körper. Gewiß, er hatte früher, vor zehn Jahren etwa, Rußland als Vertreter zweifelhafter Weine einer unbekannten Firma bereist, und diese Tätigkeit hatte seiner Zunge jene ungezwungene Leichtigkeit Verliehen, die Handlungsreisenden überhaupt eigen ist. Diese seine frühere Tätigkeit hätte ihn auch zu seinem jetzigen Beruf geführt. Einmal, als er nach Rostow am Don fuhr, gewann er die Liebe einer jungen Näherin. Dieses Mädchen war noch nicht in den offiziellen
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