Das Syndikat
wieder öfter und stärker auf, und sie fragte sich, warum. Als müsste es einen Zusammenhang geben, einen Bogen, der sich von damals bis heute spannte, von ihrem vierten bis zu ihrem dreiunddreißigsten Lebensjahr ...
Das Wohnzimmer der Traessarts war modern und nüchtern eingerichtet. Rechts ging eine Wendeltreppe nach oben. Dahinter stand eine viel zu große über Eck gehende beigefarbene Couch. Nirgendwo stand oder lag etwas herum, keine Zeitung, nichts – jedes Kissen war an seinem Platz, eine Decke lag ordentlich zusammengefaltet auf dem Sessel. Solche Wohnungen kannte Karen, hier war jemand peinlich darauf bedacht, nicht die Kontrolle zu verlieren.
Marie Traessart hatte ihr den Rücken zugekehrt, sie sah durch das Wohnzimmerfenster auf die Terrasse und den kleinen Garten hinaus. Ein Schneemann stand dort, kaum größer als ein Sechsjähriger, im Gesicht eine gelbe Karotte als Nase, die Augen aus blauem Plastik, als Kopfbedeckung trug er eine Baseballkappe. Ringsherum kam bräunliches Gras zum Vorschein.
Stimmt, die Traessarts haben ja Kinder, fiel Karen ein. Wo sind eigentlich Ihre Kinder?, wollte sie gerade fragen, als Marie Traessart anfing: »Es muss etwas Schreckliches ...« Sie drehte sich zu Karen um. »Sie haben gesagt ... es geht um sein Leben? Was ...«
Ein Poltern auf der Wendeltreppe, bevor Karen antworten konnte.
»Maman?« Zwei blasse Kinder, beide blond, kamen von oben, blieben auf der untersten Stufe stehen.
»Luc, Leon, ihr solltet in euren Zimmern bleiben!«
»Aber Papa ist doch gar nicht zu Hause!«, protestierte der Größere vorsichtig.
»Ihr solltet trotzdem oben bleiben!«, rief ihre Mutter zu laut und zu schrill.
»Aber ...«
»Nichts aber! Rauf!«
Sie rannten polternd wieder hoch.
Sie leben in Angst, Karen konnte es erkennen an ihrem unruhigen Blick, an ihren Bewegungen, an ihrer Haltung. Ein wenig geduckt, stets auf der Hut vor den Schreien ihrer Mutter – oder ihres Vaters? Was wusste Karen schon, wie Marie und Thierry miteinander lebten?
»Verstehen Sie«, sagte Marie Traessart, »er hat gar nichts getan! Das sag ich ihm immer wieder! Thierry, du hast nicht geschossen! Du hast da im Gebüsch gelegen, dein Knie war verletzt!«
»Wie bitte?«
»Beim Sprung aus dem Hubschrauber hat er sich verletzt! Er hat alles gesehen, aber er hat nichts getan! Verstehen Sie? Er hat nichts getan! Er ist unschuldig! « Marie Traessart sah Karen verzweifelt an. »Aber er sagt, Marie, glaub mir, ich wollte mitkämpfen! Ich wollte töten, ich hätte es genauso getan wie die anderen! Ich hatte noch nicht mal Schmerzen. Ich konnte nur nicht aufstehen, weil mein Bein weggeknickt war!« Marie Traessart stöhnte auf. »Er geht nicht zum Arzt wegen diesem postsymptomatischen ...«
»Posttraumatischen Belastungssyndrom.«
Marie Traessarts Finger verhakten sich ineinander. »Ich bin schuld, dass er zu dieser Firma gegangen ist. Wenn du dein Leben riskieren musst, dann lass es dir wenigstens besser bezahlen, hab ich gesagt. Dabei ... dabei wollte ich doch, dass er überhaupt mit diesem Job aufhört! Und er hat nur gesagt: Was soll ich denn sonst machen?«
Sie sah die Treppe hinauf, doch die Kinder kamen nicht zurück.
»Madame Traessart«, fing Karen an, »hat Thierry ein Arbeitszimmer? Einen Computer? Vielleicht können wir so herausfinden, was passiert ist oder wohin er verschwunden ist.«
Marie Traessart packte Karen am Arm. »Er sagt, es ist in ihm.«
»Was?«, fragte Karen ungeduldig. Ihnen lief die Zeit davon. »Was meint er damit?«
Marie Traessart schien sie nicht zu hören, sie starrte zu Boden und schwieg.
»Bitte, zeigen Sie mir seinen Computer, vielleicht finden wir etwas.«
»Bitte?«, fragte Marie Traessart verwirrt, als begriffe sie gar nicht mehr, worum es überhaupt ging. »Was finden wir?«
»Ich ...«
»Warum spricht denn keiner mit mir?«, schrie Marie Traessart. »Warum sagt mir keiner die Wahrheit? Seh ich so aus, als würde ich sie nicht verstehen? Warum fragen Sie keinen anderen? Warum ausgerechnet Thierry?«
Sie weiß es also nicht. Die Wahrheit, Karen, sag die verdammte grausame Wahrheit!
»Weil er der einzige Überlebende ist. Alle anderen sind gestorben. Herzinfarkt, Autounfall, Gehirnschlag, Selbstmord ...«
Marie Traessart erstarrte. »Wie ...« Sie ließ Karens Arm los und krallte sich an der Couchlehne fest. »Was soll das heißen, der einzige Überlebende?«
Karen erklärte es ihr so knapp und nüchtern wie möglich und dass sie herausfinden wollte,
Weitere Kostenlose Bücher