Das Syndikat
Geheimnisse verraten. Es war einfach zu kompliziert. Das entsprach nicht seiner Art, seinem Leben. Er war kein Spieler, kein Zocker, er hatte einer sein wollen, hart, skrupellos, ein Gewinner – und jetzt musste er einsehen, dass er dazu nicht geschaffen war. Dass er ein ... Es fiel ihm schwer, den Tatsachen ins Auge zu sehen, aber es ließ sich nicht übersehen, nicht leugnen: Er würde immer in der zweiten Reihe stehen. Ein Wissenschaftler, der sich nach dem richtigen, echten Leben sehnte und der zugleich Angst davor hatte. Zum zweiten Mal in seinem Leben musste er von einer Wunschvorstellung seines Ichs Abschied nehmen. Das erste Mal war es gewesen, als er begreifen musste, dass seine Mutter seinen jüngeren Bruder Elias mehr liebte als ihn. Da war er sieben gewesen. Und was hatte es Elias gebracht? Den Doktorgrad in Psychotherapie, der sich tagein, tagaus den Befindlichkeiten seiner Klienten aussetzen musste und mit denen seiner launischen Frau, die sein sauer verdientes Geld mit vollen Händen ausgab.
Also: Nein, beschloss er.
Er nahm den Hörer in die Hand. Nein, suchen Sie sich jemand anders. Dr. Peyroux. Sie leitet das Projekt. Großartig. Peyroux würde ... würde auch Nein sagen. Und die Sache wäre erledigt. So würde er es machen. Er könnte anonym und diskret einen Verdacht streuen, er habe terroristische Aktivitäten bemerkt und so weiter. Vielleicht blufften die ja auch nur, und sie hatten nichts mit der Belling Group zu tun und außerdem gar keinen Beweis für die Sache mit den Biochips. Er müsste nur verhindern, dass zu tief gegraben wurde, denn dann würde man sicher auch die zweihundertfünfzigtausend Euro auf den Kanalinseln finden.
Verrat. Zuchthaus. Keine Sonne, kein Meer, seine Träume zerplatzt.
So war das Leben. Zum ersten Mal fühlte er so etwas wie Stolz. Er blieb standhaft, trotz der Verlockungen des Geldes. Man durfte sich nie mit solchen Leuten abgeben, das hätte er doch wissen müssen. Er war größenwahnsinnig geworden, leider konnte er es nicht anders bezeichnen.
Er atmete durch und wartete auf den Anruf.
Das Telefon klingelte pünktlich.
»Und?«, fragte die Stimme, unangenehm leise.
Er straffte den Rücken, holte Luft und sagte dann mit lauter, klarer Stimme, die er sich antrainiert hatte. »Meine Antwort lautet Nein. Ich kann das nicht tun.«
Eine kurze Pause folgte, und Cortot wollte schon nervös fragen, ob überhaupt noch jemand am Telefon war, doch dann sagte die Stimme: »Jemand möchte mit Ihnen sprechen. Legen Sie auf.«
Aha, jetzt stellte man ihn zum Chef durch. Mit seinem klaren Nein hatten sie wohl nicht gerechnet. Ein zaghaftes Gefühl von Triumph regte sich.
Wieder klingelte es.
»Paul!« Thérèse! Das war die Stimme seiner Frau! »Sie sind hier, bei uns zu Hause! Bitte, du musst tun, was sie wollen, sie ...«
Jetzt sprach wieder der Anrufer: »Sehen Sie mal auf Ihr Display.«
Er starrte auf sein Handy und sah Thérèse, gefesselt auf einem Stuhl, der Mund zugeklebt! Das war ihr Wohnzimmer! Hinter Thérèse an der Wand erkannte er den Paul-Klee-Druck und die braune Ledercouch, da wurde Thérèse plötzlich eine Pistole an den Kopf gehalten ...
Er wollte schreien, aber er brachte keinen Ton heraus.
Sie waren in seine Wohnung eingedrungen, sie hatten Thérèse zu Hause überrascht. Sie würden sie erschießen, wenn er nicht tat, was sie von ihm verlangten.
»Also. Haben Sie es sich noch mal überlegt?«
Sie würden Thérèse freilassen, wenn sie die Behälter hatten und an einem sicheren Ort waren, erfuhr er. Und wo ist sicher?, hatte er wissen wollen. Das werden Sie schon noch rechtzeitig erfahren. Keine Polizei. Wir machen ernst mit ihrer Frau.
»Man braucht nicht nur die ergometrischen Daten von mir, sondern auch die des Abteilungsleiters. Nur mit zwei Berechtigungscodes kann man die Behälter entfernen«, erklärte er. »Außerdem ... außerdem gibt es Sicherheitspersonal, Überwachungskameras, Wachtposten vor dem Eingang ... Es ist völlig unmöglich, was Sie verlangen!«
»Der Abteilungsleiter, wer ist das?«
Und dann gab er ihnen den Namen. »Peyroux, Dr. Lan Peyroux.«
Es kam ihm vor, als wüssten sie den Namen schon.
55
Belgien, bei Spa in den Ardennen
Durch das Panoramafenster des Wintergartens sah die verschneite graue Landschaft mit den mächtigen knorrigen Bäumen und dem zugefrorenen See aus wie ein gerahmtes Gemälde.
Vor ihm saß der Baron, aber in Gedanken war Ken Emerson bei seiner Jacht. Golden Legend – er lächelte, Sues
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