Das System
sie sich auf der Windows-Oberfläche, öffnete hier und dort Ordner, sah sich um.
Dann nahm sie die Entwickler-Verzeichnisse genauer unter die Lupe. Sie runzelte immer mehr die Stirn. Nach ein paar Minuten
wandte sie sich an Mark. »Wo ist der Source Code?«, fragte sie.
»Source Code? Was meinst du?«
»Der aktuelle Source Code von DINA. Alles, was ich hier finde, ist mindestens drei Monate alt. Guck mal hier, das Erstellungsdatum
ist das von vorgestern, und aus der Versionshistorie geht hervor, dass dies die aktuelle Version ist. Aber ich bin hundertprozentig
sicher, dass ich den Code hier kenne. Siehst du den Kommentar hier? Den habe ich für Rainer geschrieben. Ein Bug, der noch
korrigiert werden musste.«
»Ein Bug? Könnte er für das seltsame Verhalten von DINA verantwortlich sein?«
»Nein. Der Bug stammt noch aus der Entwicklungsphase der natürlichsprachlichen Benutzerschnittstelle. Wenn der nicht korrigiert
worden wäre, hätte DINA gar nichts von sich gegeben. Ich weiß noch, dass Rainer ihn beseitigt hat, kurz bevor ich … gegangen
bin. Aber in diesem Source Code ist er immer noch drin. Also kann das nicht die aktuelle Version sein.«
»Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, dass irgendwer den alten Code genommen und so getan hat, als wäre er aktuell. Wir brauchen den aktuellen |119| Code. Wahrscheinlich wissen wir dann, warum Ludger sterben musste.«
»Aber muss der Source Code nicht irgendwo hier im System sein? Ich meine, wie kann denn DINA ohne ihn funktionieren?«
Lisa schnaubte verächtlich. »Der Source Code ist nur die für Menschen lesbare Form des Programms. Er wird beim Kompilieren
in einen Object Code umgewandelt, den die Maschine versteht. Nach dem Kompilieren ist der Source Code prinzipiell nicht mehr
notwendig. Aber natürlich kann man das Programm ohne ihn nicht weiterentwickeln.«
»Und der Object Code? Kannst du den nicht analysieren, um herauszufinden, was mit DINA los ist?«
»Stell dir vor, du bist Bauherr und willst wissen, wie dein Haus aussieht. Die Pläne des Architekten – Zeichnungen, statische
Berechnungen, Materialangaben – entsprechen ungefähr dem, was beim Programmieren der Source Code ist. Es ist nicht dasselbe
wie ein Foto oder eine 3D-Simulation, aber man bekommt eine recht gute Vorstellung. Der Object Code sähe dagegen ungefähr
so aus: ›Nehmen Sie Stein 2, legen Sie ihn neben Stein 1. Nehmen Sie Stein 3, legen Sie ihn neben Stein 2.‹ Und so weiter.
Du würdest Jahrzehnte brauchen, um zu verstehen, wie das fertige Haus aussieht, wenn du diese Detailanweisungen liest.«
Mark nickte. Es war ihm schon schwer genug gefallen, sich anhand der Pläne für sein eigenes Haus eine Vorstellung der fertigen
Räume zu machen. »Wo kann der Source Code denn sein? Meinst du, der Mörder hat ihn einfach gelöscht?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Einen Source Code vollständig zu löschen ist für einen Programmierer ungefähr dasselbe,
wie sein Kind umzubringen. Das macht man einfach nicht. Irgendwo gibt es immer eine Sicherheitskopie, ein Backup. Außerdem
muss der Source Code ziemlich wertvoll sein, wenn Ludger deshalb sterben musste.«
|120| »Du meinst, Ludger wurde umgebracht, weil er den aktuellen Source Code entdeckt hat?«
»Es sieht verdammt so aus. Er muss begriffen haben, was vor sich geht. Wahrscheinlich hat er … he!« Lisa sprang auf und zog
blitzschnell das Stromkabel aus ihrem Computer. Der Bildschirm wurde schwarz.
Mark hatte noch nie erlebt, dass ein Softwareentwickler seinen Rechner auf so brutale Art ausschaltete. »Was ist los?«
Lisa sah blass aus. »Irgendwas ist in mein System eingedrungen.«
[ Menü ]
28.
Three Oaks/Arizona,
Samstag 11:00 Uhr
Wie ein urtümliches Raubtier kroch der AT-1 auf seinen sechs Rädern über das wellige, mit dünnem Gras und dornigen Büschen
bedeckte Präriegelände. Seine Beute, ein alter M1-Panzer, fuhr zielstrebig geradeaus, eine riesige Staubfahne hinter sich
herziehend.
Obwohl der AT-1 viel kleiner war – nur etwa drei Meter lang und einen Meter hoch –, hatte der M1 keine Chance. Dr. Sybil Shepard
empfand fast so etwas wie Bedauern für den alten Panzer, der in zwei Wüstenkriegen gute Dienste geleistet hatte und schließlich
ausgemustert worden war, um hier auf dem Übungsgelände von Three Oaks als Kanonenfutter zu dienen. Er gehörte einer aussterbenden
Art an: bemannten Kampffahrzeugen.
Der AT-1 verharrte kurz, dann drehte er sich so, dass
Weitere Kostenlose Bücher