Das Tagebuch der Eleanor Druse
die Augen nach oben und lag wieder ruhig in ihrem Bett.
Mir kam es so vor, als ob in ihrem Gehirn hin und wieder ein paar letzte Flammen des Bewusstseins auf züngelten und ihr in diesen Momenten klar wurde, dass sie nur noch durch die Magensonde am Leben erhalten wurde. Und wahrscheinlich spürte sie auf ihre ganz eigene Art, dass sie den Schlauch entfernen musste. Aber die Ärzte würden das nicht zulassen und hatten ihr deshalb die Hände fixiert.
Ich hatte Tiffany – oder war es Jennifer (ich verwechselte die beiden ständig) – gebeten, Nancy vor dem nächsten Besuch ihrer Familie irgendein Beruhigungsmittel zu geben. Die Vorstellung war mir unerträglich, dass sie vor ihrem Mann oder ihren Eltern diese schrecklichen Grimassen schnitt, in dieses unheimliche Lachen verfiel oder krampfartig an ihren Fesseln zerrte.
Plötzlich hörte ich eine leicht gereizte Stimme, die mir aus meinen ersten wachen Momenten auf der Intensivstation nur allzu vertraut war.
»Guten Morgen, Madam«, sagte Dr. Stegman. »Und, wie fühlen wir uns?«
Für seine heutige Visite hatte der Alpha-Chirurg nur ein reduziertes Gefolge dabei, das aus seinem Faktotum Dr.
Metzger und drei weiteren Ärzten bestand.
Stegman setzte sich auf Bobbys Stuhl, während sich die anderen entlang des niedrigen Heizkörpers verteilten, auf dem die Schwestern manchmal zusätzliche Decken und andere Dinge ablegten. Während Stegman mit den Daumen das Trackpad eines Notebook-Computers bearbeitete, stellte mir Metzger die beiden geschlechtsreif en Weibchen vor, die neu in der Herde waren: die Neurologinnen Dr. Cantrell und Dr. Mayfield. Das zweite Subdominante Männchen war ein gewisser Dr. Gilmore, der sich als Radiologe auf Magnetresonanztomographie spezialisiert hatte. Ich forschte in seinem Gesicht nach Spuren maßlosen Erstaunens, das er beim Betrachten meiner Aufnahmen verspürt haben musste, konnte aber nichts dergleichen entdecken. Stattdessen lächelte er mir nur flüchtig zu und vertiefte sich nach einem devoten Blick hinüber zu Stegman in seine Aufzeichnungen.
Sobald Metzger mir seine Kollegen vorgestellt hatte, legte Stegman sein Spielzeug beiseite, schüttelte seine geföhnte Mähne und sagte: »Madam, es ist höchste Zeit, dass wir beide mal Tacheles reden.«
Ich blickte zu den anderen Ärzten hinüber, die sich aber geflissentlich mit irgendwelchen Notizen beschäftigten.
»Die Elektroenzephalogramme und die MRT-Aufnahmen deuten alle stark darauf hin, dass Sie unter epileptischen Anfällen leiden«, verkündete er.
Meine Hände zitterten in meinem Schoß. Ich wollte nicht, dass der Silberrücken meine Angst bemerkte, und berührte meinen Channeling-Kristall, den ich mir in Erwartung Mussolinis schon vor einer halben Stunde umgehängt hatte.
»Ich soll epileptische Anfälle haben? Ich habe keine epileptischen Anfälle«, sagte ich und wurde plötzlich unsicher.
»Ich kann mich nicht daran erinnern … je welche gehabt zu haben.«
»Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass Sie unter komplexen Fokalanfällen leiden, die möglicherweise sogar ziemlich häufig auftreten und höchstwahrscheinlich durch die frische Blutung in Ihrem Schläfenlappen oder die sehr viel rätselhaftere ältere Narbe in Ihrem Stirnlappen ausgelöst werden.«
»Sie müssen sich täuschen«, sagte ich mit einem Zittern in der Stimme, das ich nicht unterdrücken konnte. »Ich denke, ich kann Ihnen das erklären. Vor und während der Aufnahmen habe ich meditiert und mich damit bewusst in einen intensiven spirituellen Zustand versetzt. Ich wollte nämlich wissen, welche Teile meines Gehirns während einer Meditation besonders aktiv sind. Und ich kann Ihnen verkünden, meine Damen und Herren, dass ich dabei eine einzigartig tiefe Erleuchtung erfahren durfte, deren Energie Sie möglicherweise für die elektrischen Entladungen eines epileptischen Anfalls gehalten haben.«
Stegman beugte sich über mich, als wäre er ein bedeutender Insektenforscher und ich das zappelnde Exemplar einer seltenen Käferart, das er auf eine Nadel aufgespießt hatte. Und dann gab er die furchterregendste und vernichtendste Einschätzung von sich, die ein Chirurg in seinem Repertoire hat, ein Wort, das jeden Patienten, über dessen Krankheit es geäußert wird, in Angst und Schrecken versetzen sollte:
»Interessant.« Aus dem Mund eines Mediziners bedeutet dieses Adjektiv Monate, wenn nicht Jahre voller Untersuchungen, Schmerzen, Leid und Schwächung. Während dieser Zeit bietet der
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