Das Tagebuch der Eleanor Druse
derjenige, bei dem die meisten Patienten entweder auf dem Operationstisch verstorben sind oder nach der OP bleibende Schäden hatten.
Das bedeutet, dass uns bald die ersten Klagen ins Haus flattern werden. Aber solange Stegman dem Krankenhaus unterm Strich einen Gewinn erwirtschaftet, werden Tragödien wie diese auch weiterhin an der Tagesordnung sein.«
»Aber das kann doch nicht so weitergehen. Jemand muss ihm das Handwerk legen.«
»So bald wird das nicht der Fall sein. Stegman wird so lange weiter operieren, bis entweder das Krankenhaus mit Klagen überhäuft oder die Aufsichtsbehörde auf ihn aufmerksam wird.«
»Wer außer Ihnen weiß noch, was dieser Mann hier anrichtet?«
»Ich weiß viel, weil seine Patienten häufig bei uns auf der Intensivstation landen. Wir hatten bereits mehrere Fälle wie diesen, und ich weiß, dass sich schon einige Mitarbeiter beschwert haben.«
Claudia verstummte. Sie senkte den Blick und schniefte.
»Die Beschwerden haben offensichtlich nichts bewirkt«, sagte ich. »Er darf noch immer praktizieren, nicht wahr?«
»Ja, und die Schwestern, die sich beschwert haben, wurden entlassen. Das kann ich mir nicht leisten, und deshalb warne ich die Patienten, denen ich vertraue, lieber vorher.«
»Weiß Nancys Familie von dem Kunstfehler?«
Claudia schüttelte den Kopf. »Ja und nein. Sie wissen, dass etwas schief gelaufen ist, aber sie sind zu gutgläubig.
Außerdem wissen sie zu wenig von Medizin, geschweige denn von Neurologie, um die richtigen Fragen stellen zu können. Sie verstehen nur mit Müh und Not, was überhaupt passiert ist.«
»Das ist einfach ungeheuerlich!«, rief ich und blickte hinab auf die arme Frau, die in ihrem langsam immer weiter verfallenden Leib gefangen war.
»Stegman ist nicht nur dafür verantwortlich, dass sie in diesem Zustand ist, der Bastard erhält sie zu allem Überfluss auch noch künstlich am Leben. Er ist dagegen, dass die Magensonde entfernt wird.«
»Und was sagt ihre Familie dazu?«
»Es kommt darauf an, wen man fragt und ob derjenige kurz vorher mit Stegman gesprochen hat. Nancys Mann und seine Mutter wollen, dass die Sonde entfernt wird und dass man Nancy sterben lässt. Sie wissen, dass sie nie wieder das Bewusstsein erlangen wird.«
»Und was sagen Nancys Eltern?«
»Die sagen das, was sie von Stegman eingetrichtert bekommen. Die Neurologen des Krankenhauses tanzen alle nach seiner Pfeife, und er kann jederzeit mindestens zwei von ihnen erzählen lassen, Nancys CAT-und MRT-Aufnahmen seien nicht eindeutig und die Glukosestoffwechselwerte in den beiden Gehirnhälften seien zwar vermindert, deuteten aber nicht eindeutig auf einen endgültigen Verlust ihrer kortikalen Aktivität hin. Und so weiter und so fort.«
»Wen interessieren diese Tests?«, warf ich ein. »Nancy hat nichts Lebendiges mehr an sich. Sie ist schon längst nicht mehr hier. Ihr Körper vielleicht, aber nicht ihre Seele.«
»Stegman hat Aufnahmen von einer Digitalkamera, die Nancy zeigen, wie sie angeblich den Kopf hebt und sich nach jemandem im Zimmer umsieht.«
»Das ist doch unverantwortlich, was er ihrer Familie antut«, entgegnete ich.
»Bitte, Sally«, sagte Claudia, und vor lauter Schuldgefühl stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. »Sie dürfen niemandem sagen, dass ich Ihnen das alles erzählt habe, sonst …«
»Das weiß ich doch«, antwortete ich. »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen.«
MEDIKAMENTÖSE THERAPIE
Am nächsten Vormittag hatte ich einen Termin bei Dr. Metzger. Als Tiffany mich in ein Besprechungszimmer führte, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass sich der Psychiater hinter meinem Rücken eine Verbündete gesucht hatte.
»Hallo, Sally«, sagte Claudia. Sie wirkte leicht verlegen, als hätte sie mich vorher über dieses Treffen informieren wollen, es aber verboten bekommen.
Metzger trug jetzt wieder seinen weißen Arztkittel mit den herausnehmbaren Taschenschonern und seinem Namensschild.
Er machte ein selbstzufriedenes Gesicht und entschuldigte sich gleich zu Anfang für Dr. Stegmans unmögliches Benehmen vom Vortag.
»Er will nur Ihr Bestes«, sagte er, »aber wie viele andere Chirurgen kann er nicht sonderlich gut mit Menschen umgehen.« Er grinste bis über beide Ohren.
Um das zu bemerken, muss man kein Hellseher sein, dachte ich mir. Dr. Stegman war für mich der lebende Beweis dafür, dass der Mensch nicht nur aus Materie besteht: Eine bloße Ansammlung von Zellen, Molekülen und Atomen konnte unmöglich
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