Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
Zimmer stand offen. Ich konnte nicht beschwören, dass Dave oder ich sie geschlossen hatte. Hatte Dave nicht gesagt, dass wir diese Tür für immer schließen würden, weil die bösen Geister mir dann nicht folgen könnten? Ich glaubte, ja. Sicher war ich mir jedoch nicht.
Die Morgendämmerung tauchte das Zimmer in dunkles Rot . Nur an jener Wand, auf die der Baum seinen Schatten warf, schien die Dunkelheit im Raum hängen geblieben zu sein. Wie damals als Junge meinte ich auch jetzt, ein Gesicht zu erkennen. Rot glühende Augen in einer schreienden Fratze, die von wilden abstehenden Haarbüscheln umgeben war. Der Werwolf. Er war da. Wir waren wieder vereint. Er, Any und ich.
Ich konnte Any spüren, wie man elektrischen Strom spüren konnte, wenn man nahe genug unter einer Hochspannungsleitung stand. In meinem Fall war dieses Haus die Hochspannungsleitung und Any floss durch den Keller, die Böden, die Mauern und das Dach. Falls es in diesem Gebäude ein en Ort gab, wo diese Energie fort floss und zurückkehrte, dann war es dieses Zimmer. Genau dort, wo mein Schreibtisch gestanden hatte. Genau dort, wo ich mich jetzt auf den Boden setzte und die Lampe, das Tagebuch, das Taschenmesser und den Stift – die Dinge, die ich im Store gekauft hatte – auf die Dielen legte.
Ich schlug das Tagebuch auf. Dieses Tagebuch gehört konnte ich im roten Schein der aufgehenden Sonne lesen. Buchstabe um Buchstabe schrieb ich auf die punktierte Linie, bis schließlich Jacky Reynolds unter dem Satz stand. Ich spürte die Wärme, die von dem Buch ausging. Die Seiten begannen rot zu leuchten, als besäßen sie feine Äderchen, durch die Anys glühendes Blut zu fließen begann. Any , schrieb ich hinein. Ich brauche deine Hilfe . Gänsehaut zog sich über meine Unterarme, gefolgt von einem brennenden Schmerz in meinen Schläfen. Er zog sich über meinen Hals in die Brust, k roch durch meine Rippen zu mein em Herz. Ich kannte dieses Stechen und Ziehen, dieses Brennen, als würde mein Herz in Flammen stehen. Ich hatte es als Junge immer wieder gefühlt und wie damals wusste ich auch heute, dass Any mir nun zuhören würde.
Wer ist der Mörder ? , schrieb ich mit Blockbuchstaben in das Buch. »Wer?«, flüsterte ich. »Verdammt noch mal, Any – wer?« Ich kreiste den Satz ein. Wieder und wieder. Das Rot im Zimmer verdunkelte sich, als hätte die Sonne sich hinter einer Wolke versteckt. Türkises Licht flutete den Raum. Mein Oberkörper warf einen scharfen Schatten an die Wand. Aber da war noch ein zweiter. Jemand befand sich hinter mir. Ich zuckte herum, schnellte hoch und presste den Rücken gegen die Wand.
»Spielst du jetzt mit uns, Jacky?« Patricia saß in ihrem Rollstuhl und klatschte die Handflächen bettelnd aneinander. Neben ihr saß Melissa. Von der Tür kamen Peggy-Sue, Brenda und Vivian in das Zimmer gerollt. Alle Mädchen blickten mich flehend an.
»Any«, flüsterte ich. »Was soll das?« Meine Finger krampften sich um den Stift. »Any!« Ich fuchtelte mit dem Stift vor meinem Gesicht herum. »Hör auf damit!«
Die Mädchen erhoben sich aus den Rollstühlen und gingen langsam auf mich zu. »Du hast gesagt, dass du uns lieb hast, Jacky«, sagte Patricia. »Und dass du mit uns spielst«, führte Melissa den Satz fort. »Spielst du jetzt mit uns?«
»Geht weg!«, der Stift fuhr durch Patricias Gesicht wie durch aufgewirbelten , farbigen Staub.
Lass sie tanzen, Jack. Lass die Mädchen deine Primaballerinas sein. Du liebst sie doch so sehr, die kleine Primaballerina. Und dein Eddy-Daddy hat sie für dich zum Tanzen gebracht. Weißt du noch, was du gesagt hast? Wenn sie weinen würde, dann wären ihre Tränen schwarz. Ich habe dir immer wieder gesagt, dass es nur eine Puppe ist. Dass sie nicht tanzen kann ohne die Seile. Komm schon, Jack. Spanne die Seile und lass die kleinen Primaballerinas tanzen!
»Nein!«, brüllte ich. Mein Herz trieb Lava durch die Adern. Alle Poren meines Körpers glühten in höllischem Rot. Jeden Moment würde mein Brustkorb explodieren. Die Spieldose spielte meine Melodie. Sie stand auf dem Tisch neben dem Bett. Eine Porzellanballerina tanzte. Meine Mutter hatte sie mir geschenkt, nachdem ich ihr gestanden hatte, wie sehr ich die Primaballerina aus dem Wohnzimmer liebte. »Wenn du die Spieluhr aufziehst«, sagte sie, »erweckst du sie zum Leben. Dann tanzt sie.« Sie klappte den Deckel hoch. Die Balletttänzerin kam zum Vorschein. Weiße Porzellanhaut, tiefschwarze Augen, purpurrote Lippen. Sie
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