Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
ihre Horrorshow abzogen. War es so weit? Hatte mein Kontakt mit Any mich nun endgültig in diese andere Realität gezogen? Dann war ich darin gefangen. Und es gab kein Entkommen.
»Lass mich raus Any! Lass mich sofort raus!«
Doch das Tagebuch blätterte weiter und weiter. Immer wieder griff die Hand des Mädchens mit den dunklen , langen Locken nach mir. Als wollte sie mich in das Bild hineinzerren.
»Ich war das nicht«, brüllte ich zu dem Buch. »Hörst du? Ich habe dieses Bild nicht gezeichnet! Und ich werde es dir beweisen!«
Ich polterte über die Stufen in die Diele, riss die Kellertür auf und rannte die Treppe nach unten. Ich stolperte, fiel die letzten Meter, krachte auf den Beton.
Tot. Lieber Gott, lass mich tot sein! Hätte ich doch nur diese verfluchten Tabletten nicht erbrochen! Wäre ich doch in diesem verdammten Motel krepiert!
Aber ich war nicht tot. Ich lebte, hatte mich nach dem Sturz noch nicht einmal verletzt. Ich drückte mich hoch und stieß die Ateliertür auf, leuchtete auf die Staffelei, auf den Stapel Papier, der daneben auf dem Tisch lag. »Ich werde euch beweisen, dass ich das Bild nicht gemalt habe.«
Ja, Jack! Male! Du hast immer gemalt! So unglaublich schöne Bilder! Male deine Primaballerina.
Ich klemmte ein Blatt Papier auf die Staffelei und griff nach einem der Stifte, die neben dem Stapel lagen. »Ich werde jetzt dieses Mädchen malen! Und dann werdet ihr alle sehen, dass ich es nicht gemalt haben kann !«
Ich zog den ersten Strich. Er verlief vom Zentrum des Blattes ins linke untere Eck. Es war die Bettkante. Eine horizontale Linie. Drei weitere Male setzte ich den Stift auf das Papier und malte den Bettkasten. Er sah stümperhaft aus. Wie ein verzogenes Viereck. »Seht ihr? Das hat doch gar nichts mit diesem Bild zu tun! Ich kann nicht malen!«
Male Jack! Male das Bild fertig. Du hast immer gesagt, die ersten Striche sind die schwierigsten. Jetzt male das Bild!
»Das wird aber ein schönes Bild!« Patricia saß im Rollstuhl hinter mir. »Was ist das? Ein Kinderbett?«
»Nein!«, brüllte ich. »Das ist nichts! Das ist gar nichts!«
»Aber das Bild ist noch nicht fertig!«
Patricia hat Recht, Jack. Das Bild ist noch nicht fertig. Male es! Bringe es zu Ende! Male es für deinen Eddy-Daddy.
Wieder setzte ich den Stift an. Dieses Mal war er federleicht. D ie Spitze schien gut einen Zentimeter über dem Papier zu schweben, obwohl ich ihn fest gegen die Staffelei drückte. Linie um Linie zog ich. Malte das Kissen, die Bettdecke, zog den Bettkasten nach. Ich sah das Mädchen vor mir, als würde dieses Bild bereits vollendet sein und ich durch meine Striche nur die weiße Deckfarbe des Papiers abkratzen. Fünf Minuten später starrte ich auf das Bild des gesichtslosen Mädchens. Es war exakt das Bild, das ich eben in meinem Zimmer im Tagebuch gesehen hatte. E s stand außer Zweifel, dass dieses Bild von mir stammte.
»Male das Gesicht Jacky!«, riefen Patricia und Melissa im Chor. »Wir möchten es sehen!«
»Ich kenne das Gesicht nicht!«
Natürlich kennst du das Gesicht. Und wie du das Gesicht kennst. Sieh dir all die Mädchen auf den Bilde rn an. Alle hast du gemalt. A lle haben ein Gesicht. Male das Gesicht, Jacky, und dann hol dir die kleine Schlampe.
»Nein«, sagte ich und drehte mich zu den Mädchen. »Ich werde das Gesicht nicht malen.«
»Oooch, Jacky. Bitte!«
Ich warf den Stift auf den Boden. »Solange ich das Gesicht nicht gemalt habe, wird dem Mädchen nichts passieren, oder?«
Jack! Male das Gesicht und hol dir die Schlampe.
»Nein, Dad. Das werde ich nicht tun. Eddie ist tot. Er wird keine Mädchen mehr holen.«
»Eddie ist nicht tot. Eddie ist hier!«, riefen die Mädchen und zeigten in meine Richtung.
»Nein! Ich bin nicht Eddie!« Ich rannte aus dem Atelier und stürzte die Treppe nach oben. Ich musste weg, fort aus diesem Horror. Aber ich wusste, dass ich ihm nicht entkommen konnte. Ich wusste, dass ich Eddie gefunden hatte. Eddie würde mir überall hin folgen. Er war in mir. Schon die ganze Zeit. Und das würde sich nie ändern.
Die Mädchen erwarteten mich bereits in der Diele und blickten mich mit traurigen Gesichtern an. »Du kannst nicht weg. Du kannst uns nicht alleine lassen. Du musst uns raus lassen«, sagte Melissa und strich sich schniefend durch das dunkle Haar. Schwarze Tränen rannen über die bleichen Wangen. »Lass uns raus und spiel mit uns, Jacky. Du hast es uns versprochen.«
»Ich habe euch gar nichts versprochen.
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