Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
trug ein kurzes hellblaues Kleid. An der Innenseite des Deckels befand sich ein Spiegel, auf dem ein Regenbogen aufgeklebt war. Im Spiegel sah ich die Ballerina. Sie schien über dem Regenbogen zu schweben. Mutter drehte an einem geschwungenen Rad an der Vorderseite der Dose. Wieder und wieder. Dann begann die Ballerina zur Musik zu tanzen. Sie hob die linke Hand und das rechte Bein, senkte sie und wiederholte die Bewegung mit der rechten Hand und dem linken Bein. »Somewhere over the rainbow«, sang meine Mutter mit einem breiten Lächeln. »Skies are blue. And the dreams Jacky dares to dream really do come true.« Sie lachte und stellte die Spieluhr auf den Tisch. »Wenn du ganz fest daran glaubst, Jacky, dann werden deine Träume wahr. Dann wird auch die kleine Primaballerinapuppe auf Daddys Bild über dem Regenbogen zu tanzen beginnen. Du musst daran glauben, Jacky. Glaub daran!«
»Nein! Any, hör auf!«, brüllte ich abermals. Wie ein Messer ließ ich den Stift durch die Luft sausen. »Verschwindet! Ihr seid nicht echt!« Die Mädchen ignorierten meine Worte und hoben synchron die Arme und Beine, im Takt der blechernen Melodie.
»Wer ist der Mörder, Any? Wer ist der Mörder?«
Ein heller Blitz schlug durch das Fenster in das Zimmer. Geblendet schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, lag ich auf dem Boden, blickte zur Wand, die in hellem Orange strahlte.
Schweiß rann über meine Stirn, meine Brust tobte in beißendem Schmerz, als hätte mir jemand ein Brandeisen gegen die Rippen gepresst. Der Daumen und der Zeigefinger meiner rechten Hand umkrallten den Stift. Die linke lag auf dem geschlossenen Tagebuch.
Ich drückte mich hoch, presste den Rücken gegen die Wand und blickte aus dem Fenster. Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Laub des Baumes und brachten ihn zum Glitzern. Auch wenn es wie ein Zeichen von Hoffnung wirkte, glaubte ich, diese verloren zu haben. Any hatte mir nicht geantwortet. Ich hatte nur einen weiteren Flashback durchlebt. Einen weiteren Horrortrip in dieser anderen Realität, intensiver als alle Vorhergehenden. Ich war davon überzeugt gewesen, Any würde mir das Bild des Mörders liefern, aber alles, was ich von ihr bekommen hatte, war ein Ausflug in meine ganz persönliche Hölle.
Der Stift zitterte in meiner Hand. Er war kurz und stumpf. Neben dem Tagebuch lagen abgeschnittene Stiftstücke. Ich blickte auf das Taschenmesser, das ich zum Anspitzen des Stiftes gekauft hatte. Auf das Tagebu ch, dessen Blätter seitlich keinen geraden Abschluss mehr bildeten. Sie verliefen wellig. Als hätte jemand das gesamte Buch vollgeschrieben.
Ich setzte mich auf den Boden zurück und schlug das Buch auf. Meine Frage stand auf der ersten Seite. Eingekreist von tiefen schwarzen Linien. Aber da war noch mehr. Auf der Rückseite des Blattes. Wie eine Gravur hatte sich der Stift durch das Papier gedrückt. Ich blätterte um und starrte auf die Zeichnung eines Mädchens. Nicht irgendeine – es war das unfertige Bild, das Dave und ich im Atelier gefunden hatten. Als hätte jemand die Zeichnung verkleinert und in das Tagebuch geklebt. Auf der nächsten Seite hatte ich das gleiche Bild gezeichnet. Wieder und wieder. Das Mädchen ohne Gesicht. Ich hatte es auf jede Vorder- und Rückseite der Blätter des Tagebuches gemalt. Any hatte mir ein Bild geschickt. Doch nicht das Bild des Mörders. Any schickte mir das nächste Opfer – und damit die Antwort auf meine Frage.
Ich schüttelte den Kopf. Starrte auf das Buch, auf die Zeichnung, auf meine Hände. »Nein«, flüsterte ich, griff nach der Stablampe und schob meinen Rücken die Wand hoch. Any hatte sich geirrt. Es war nicht möglich. Es konnte nicht möglich sein. Es durfte nicht möglich sein. Ich hatte diese Bilder nicht gemalt. Ich muss ohnmächtig gewesen sein und der Mörder hatte die Bücher vertauscht. Genau. So muss es gewesen sein.
Oh, Jack. Nur nicht so bescheiden. Du bist doch so talentiert. Das hast du von deinem Eddy-Daddy.
Ich ging rücklings zur Tür und öffnete sie. »Nein, Any, das ist nicht wahr.« Wind strich von der Diele über meinen Körper in den Raum und blätterte die Seiten des Buches um. Es wirkte wie ein Daumenkino. Der Arm des Mädchens bewegte sich. Schien mehr und mehr aus der Zeichnung zu fassen. Nach mir. »Any, hör auf!«
Es war nur ein Streich meiner Sinne. Nichts anderes. Es konnte nur bedeuten, dass der Horrortrip noch nicht vorbei war. Dass jeden Moment diese Mädchen wieder auftauchen würden und
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