Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
aber nicht. Wieder verspürte ich dieses Gefühl, dass ich hier Antworten finden würde. Antworten auf die Fragen, die die Mord e an Patricia und dem Mädchen im Wagen aufwarf en . Aber in dem Raum befand sich nichts. Doch dann verstand ich dieses drängende Gefühl in mir. Any wollte mir die Antworten liefern. Sie war hier und wollte mir helfen. Aber wollte ich mir von Any helfen lassen?
Bevor ich mir diese Frage beantworten konnte, rannte ich die Stufen nach oben und holte Patricias Tagebuch aus dem Wagen. Any würde mir Bilder schicken, und mir so den Hinweis auf den Mörder geben. Und das tat sie. Ich schlug das Tagebuch im Atelier auf und als hätte Any nur auf diesen Augenblick gewartet, fing ich an zu malen. Bild um Bild schickte sie mir, und als ich jedes einzelne vollendet hatte, starrte ich auf die Zeichnungen, die den Werwolf, die Schlange und die fünf Mädchen in den Rollstühlen zeigten. Ich schüttelte den Kopf, als mir klar wurde, dass der Tod der beiden Mädchen nur der Anfang war. Es würden noch mehr sterben, wenn es mir nicht gelänge, den Werwolf zu stoppen.
12. August 2011
1:45 nachmittags (33 Stunden früher)
Die Möbel im Haus meiner Eltern waren mit weißen Stofftüchern verhängt. Sandra hatte mir dabei geholfen. Immer wieder schwärmte sie, wie schön das Haus wäre und ob ich nicht vorhätte, mein Appartement aufzugeben und hierher zu ziehen. Aber ich wollte nicht in dieses Haus. Es gab zu viele Erinnerungen, die in diesen Wänden eingesperrt waren. Die schreckliche Zeit, als meine Mutter anfing ihre Stimme zu verlieren und es nur noch mi t äußerster Anstrengung schaffte, sich mit gepressten Würgelauten zu verständigen. Der Kehlkopfkrebs hatte Metastasen gebildet, die sich mehr und mehr durch ihren Körper fraßen. M ein Vater und ich mussten hilflos zusehen, wie sie Tag für Tag zunehmend ihrer Krankheit verfiel. Vater zog sich zurück un d gab sich den Depressionen hin . Depressionen, die ihn in d en Wahnsinn trieben – und schließlich in den Tod.
»Nein«, sagte ich zu Sandra. »Ich will dieses Haus nicht.« Dass es noch einen anderen Grund gab, erzählte ich ihr nicht.
Zwar wusste sie von Any, meiner Zwillingsschwester, die vor der Geburt gestorben war , und dass ich deshalb zwei Monate zu früh per Kaiserschnitt geholt wurde . A ber dass Any immer noch in diesem Haus war und immer noch versuchte, Kontakt mit mir aufzunehmen, hatte ich für mich behalten.
Als ich die Puppe in Patricias Zimmer an mich genommen hatte, musste ich sofort an das Bild im Wohnzimmer meines Elternhauses denken. An die tanzende Primaballerina und daran, dass ich als Junge meiner Mutter erzählt hatte, sie würde schwarze Tränen weinen, weil die Augen mit Kajalstift zentimeterstark geschminkt wären.
Ich riss das Tuch vom Rahmen des Bildes und betrachtete die Liebe meiner Jugend. Ja, es bestand kein Zweifel. Die Puppe aus Patricias Haus sollte diese Primaballerina darstellen. Weinend, da sie an diesen Seilen festgemacht war und doch so gerne tanzen würde. Frei und ungezwungen.
Der Mörder kannte diese Geschichte und er kannte mich. Er wollte eine Spur legen, die von Patricias Mord zu mir führte. Aber der Mörder hatte nicht bedacht, dass diese Spur auch zu ihm führen würde. Es gab nicht viele Menschen, die diese Geschichte kannten. Meine Mutter war vor drei Jahren an den Folgen des Krebses gestorben. Mein Vater hatte sich vor zwei Monaten das Leben genommen. Blieb nur noch eine Person übrig, die das Bild der Ballerina gesehen hatte und von dieser Geschichte wusste.
Ich schüttelte den Kopf, wollte es nicht wahrhaben, aber mehr und mehr verdichteten sich die Erlebnisse der letzten Tage zu einem sinnvollen Ganzen. Ich sollte zum Schweigen gebracht werden. Nicht nur das – ich sollte für etwas büß en, das ich nicht getan hatte u nd falls ich nicht das Gegenteil beweisen konnte, würde dieser Plan funktionieren. Mein Hinweis bei Hearing würde mich belasten. Denn sobald feststand, dass Patricia ermordet wurde, würden die Ermittler nach Verdächtigen suchen und früher oder später feststellen, dass zwischen Patricia und mir ein Kontakt bestand. Meine Fragen bei der Heimleitung, mein Besuch vor der Schule, mein Gespräch mit Patricia im Heim – alles würde Stück für Stück die Schlinge um meinen Hals zuziehen.
Doch da war noch mehr. Was war mit dem Mädchen, das im Wagen verbrannte? Auch hier hatte ich den Verdacht, dass es sich um ein Gewaltverbrechen handeln würde. Hingen
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