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Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Titel: Das Tagebuch der Patricia White (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Carlo Ronelli
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Nebenzimmer klingelte ein Telefon.
    »Na, toll!«, schimpfte die Frau. »Einen Moment noch!«, tönte es aus d em Raum, gefolgt von schnellen Schritten und einem gehetzten »Hallo?«
    Ich blickte auf das Päckchen in meiner Hand und beschloss, die Praxis zu verlassen, um etwaigen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Sobald ich mehr über den Inhalt wusste, konnte ich zurückkommen, um festzustellen, inwiefern Sandra Berington mir bei meiner Selbstfindung behilflich sein konnte. Vorsichtig und schnell löste ich das Adressetikett von dem Packpapier, knüllte es zusammen und ließ es in meiner Hosentasche verschwinden. Für einen Unbeteiligten schien dieses Päckchen nun an mich adressiert zu sein.
    Mein verletztes Bein knickte ohne jede Vorwarnung seitlich weg. Ich versuchte, mich auf der Schreibtischplatte abzustützen und hatte Mühe , mich aufrecht zu halten. Ein anschwellendes Summen machte sich in meinem Kopf breit. Mit zunehmendem Dröhnen begann der Raum sich zu drehen. Die Tür zum Therapiezimmer wurde einen Spalt geöffnet.
    »Ja, da hätte n wir einen Termin frei.«
    Ein Mädchenkopf erschien hinter der Tür. Verschwommen, mit jeder Umdrehung des Raumes verschwommener. Aber klar genug, um zu erkennen, dass dieses Gesicht dem kleinen Mädchen aus dem Motel, dem Auto, dem Appartement gehörte. Es lächelte mich an. Ich konnte mich nicht länger am Schreibtisch festhalten, knallte auf den Boden. Das Päckchen schlug neben mir auf.
    Die Welt verblasste. Nur schemenhaft nahm ich wahr, wie die Eingangstür geöffnet wurde und eine Person vom Gang in die Praxis trat.
    Jemand sagte etwas. Weit entfernt aber doch so nah, dass ich meinte, es wurde in mein Ohr geflüstert. Ich schloss die Augen und sah das Gesicht des Mädchens, hörte die Spieluhr Somewhere over the rainbow spielen. Das Mädchen weinte, schrie. In ihren hellblauen Augen spiegelten sich Flammen in höllischem Glanz.
    Wieder sprach jemand zu mir. Die Kleine. Sie wiederholte einen Satz wieder und wieder. Zuerst unverständlich. Letztlich aber laut und deutlich: »Warum hast du mir das angetan, Eddie?«
    Ich bin nicht Eddie! Und ich habe dir nichts angetan! Was willst du von mir?
    Das Gesicht des Mädchens verblasste. Nur diese verhasste Stimme in meinem Gehirn antwortete. Die Worte pochten in meinem Kopf, als versuchten sie, die Schädeldecke zu sprengen: Aber das weißt du doch ganz genau, Jack.

6
     
    Meine Mutter roch vertraut. Eine Mischung aus Blumenstrauß und gebratenem Fleisch haftete an ihrer Bluse. Ich hatte meine Augen geschlossen, aber ich wusste, dass diese Person, gegen deren Brust ich meinen Kopf presste, meine Mutter war. Sie strich über meine Haare. Zärtlich und behutsam. Dann hörte ich ihre Stimme. Sie beruhigte mich, tröstete mich , v ersuchte , mein rasendes Herz zu bremsen, meine Tränen zu trocknen, obwohl auch sie weinte. Ihre geflüsterten Worte zitterten und sie war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber ich spürte es. Ich spürte jede einzelne Träne, die über ihre Wange floss, über ihren blau gefleckten Hals auf den Kragen ihrer schmutzig weißen Bluse. Ich spürte es, wie ich es immer gespürt habe, wenn Mutter traurig war. Wenn sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen hatte und in ihr Kissen schluchzte. Dann hörte ich sie denken. Sie dachte an den Tod. An ihren Tod. Ihre Finger strichen über die Stelle auf der Matratze, unter der sie die Tabletten versteckt hatte. Einschlafen und nie wieder erwachen. Flucht aus diesem Leben. Egal, was danach kam – es konnte nicht schlimmer sein. Und dann hörte ich sie an mich denken. Und daran, dass sie mich nicht im Stich lassen konnte. Nicht in dieser Wohnung. In dieser Hölle.
    Ich hämmerte gegen die Schlafzimmertür. Fest. Noch fester. Weil sie nicht an den Tod denken durfte. Weil sie mich nicht im Stich lassen durfte. Weil ich sie brauchte. Sie und den Duft nach Blumenstrauß und gebratenem Fleisch. Aber ich wusste, dass die Todessehnsucht von Tag zu Tag wuchs und es nicht mehr lange dauern würde, bis sie ihren Geist vergiftet hatte. Ich spürte es. Wie ich jede einzelne Träne spürte. Tag für Tag.
    »Nicht weinen, Jacky. Es wird alles gut.«
    Ich nickte. Doch nur, um ihr das Gefühl zu vermitteln, ihre Versuche mir Mut und Hoffnung zu geben, wären erfolgreich. In Wahrheit wusste ich, dass nichts gut werden würde, dass meine Mutter mich belog. Und sie wusste, dass ich es wusste. So belogen wir uns beide, wieder und wieder, während ich meinen zitternden Körper an

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