Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
gessenes Leben blicken lassen u nd ich wünschte mir, meine Erinnerung daran sollte nie wieder zurückkehren.
7
Der Mann neben mir würde bald sterben. Ich wusste es. Nicht, weil sein Schädel mehr aus Knochen als aus Haut bestand und die Lunge jeden Atemzug nur noch mit Unterstützung der Maschine schaffte, die durch einen fingerdicken Schlauch Sauerstoff in seine Luftröhre pumpte, sondern weil mir jemand – Any? – dieses Bild gezeigt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde war es in meinem Gedächtnis gewesen: Zwei Krankenschwestern schieben das Bett aus dem Zimmer. Die Leiche starrt mich an. Die Augen weit aus den Höhlen getreten, Blut rinnt aus Nase und Mund. Die Hände liegen um den Hals, als hätte dieser Mann sich selbst erwürgt.
Er würde ersticken. Vermutlich Lungenkrebs im Endstadium. Und seine letzte Tat war – nachdem die Lunge sich geweigert hatte, weiterzuatmen und den bösartigen Tumoren weiter Sauerstoff zu liefern – , sich den Luftschlauch aus dem Rachen zu reißen und zu versuchen, irgendwie die Verkrampf ung der Halsmuskulatur zu lösen.
Der Tod war für diesen Mann eine Erlösung und ich fragte mich, ob es nicht ein Akt von Menschlichkeit gewesen wäre, ihm den unausweichlichen Erstickungstod zu ersparen und ihn friedlich einschlafen zu lassen. Aus menschlicher Sicht vermutlich ja. Weil das Ende der Krankheit bekannt ist . Wäre nicht auch für meine Mutter der Tod eine Erlösung gewesen? Wäre der Tod für sie nicht das bessere Leben gewesen?
Der Traum hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Offenbar hatte mein Gehirn einen Teil der Erinnerungen in der Traumphase freigegeben und mir einen Einblick in meine Kindheit gestattet. Zynismus schlechthin: Von allen Erinnerungen erhielt ich genau jene, die ich nicht haben wollte. Ich sollte mich glücklich schätzen , all das vergessen zu haben.
Meine Versuche, die Hintergründe des Traumes zu erforschen, mündeten in einer Reihe von Fragezeichen. Wobei ich mir vor Augen hielt, dass Träume Informationen als Symbole verarbeiteten. Symbole für gespeicherte reale Erlebnisse – an die ich mich jedoch nicht erinnern konnte.
Dass meine Mutter tot war, schien mir eine Tatsache. Dass mein Vater sie ermordet hatte ebenso. Sein Erscheinen als Werwolf sagte alles über ihn aus. Nur, dass ich das Gefühl hatte, er wäre weitaus grausamer gewesen als jedes Monster, das der menschliche Geist erschaffen konnte. Ich hoffte, dass er in der Hölle schmorte. F alls nicht, wäre es höchste Zeit, dafür zu sorgen.
Alle in der Gedanke an meinen Vater ließ heißen Zorn und eiskalte Mordlust in mir aufsteigen. Ich sah mich, wie ich diesen Wolf mit einem Beil in steakgroße Stücke zerhackte. Meine Muskeln spannten sich bei der Vorstellung, den scharfen Stahl in seinen Schädel zu treiben, und mit jedem Hieb spürte ich G enugtuung. Ich sah dieses Bild derart deutlich vor mir, dass ich erschrak und mich fragte, ob es nicht genau so passiert war. Hatte ich meinen Vater tatsächlich getötet? Den Tod meiner Mutter gerächt? Hätte ich diese Frage noch vor Sekunden mit Nein beantwortet, so war ich mir nun nicht mehr sicher. Im Gegenteil: Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr empfand ich den in Stücke zerhackten Kadaver als Erinnerung und nicht als Wunschvorstellung. Letztlich traute ich mir diese Tat aber nicht zu . Nein, i ch hätte das nicht gekonnt. Was aber, wenn mir jemand dabei geholfen hätte?
Any.
Wer war sie? Im Traum sprach sie zu mir. Wie diese verhasste Stimme in meinem Kopf. Aber ihre Stimme war angenehm, beruhigte mich, gab mir Schutz und Hoffnung. War Any meine Schwester? Hatte ich eine Schwester, mit der ich telepat h isch verbunden war? Falls ja – warum hatte ich dann nur ihre Stimme in meinem Kopf und nicht ihr Gesicht?
Die Antwort, die mir mein Verstand lieferte, war einfach. Ich verleugnete sie, wusste aber im gleichen Moment, dass ich mich belog. Auch wenn ich keine konkrete Erinnerung an Any hatte – die Stimme ausgenommen – , wusste ich eines mit Sicherheit: Any war tot.
Ja, Jack. Wir haben dieses kleine Miststück erledigt.
Sie war schon tot, als ich als Junge in dieser Hölle lebte. Aber war sie tatsächlich meine Schwester? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich nach ihr sehnte. Mehr denn je. Ich brauchte sie, um aus diesem Wahnsinn hinauszufinden, wie aus dem Alptraum, aus dem sie mich geweckt hatte.
Als die Tür aufging und die Krankenschwester das Zimmer betrat, schoben sich Wolken vor die Sonne.
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