Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
sie presste und jede Sekunde genoss, in der sie diese Wärme ausstrahlte, wie ein Sonnenstrahl an einem kalten Frühlingsmorgen.
Any riet mir, die Augen nicht zu öffnen. Doch wie so oft, wenn man etwas nicht tun sollte, kann man es unmöglich verhindern. Wie Recht Any gehabt hatte, zeigte mir das von ringelnden Maden übersäte Fleisch, an das ich meine Wange presste. Es quoll durch Brandlöcher einer weißen Bluse. Millionen bunt schillernde Fliegen umkreisten den Schädel, über dessen blutig knöchrige Wange eine türkise Schlange in der rechten Augenhöhle verschwand.
Ich kannte dieses Bild. Anfangs wäre ich beinahe vor Panik und Schock gestorben. Aber jetzt erschr eckte es mich nicht mehr. I ch wusste, dass es nicht real war. Ich wusste, dass es wieder verschwand, wenn ich Any darum bitten würde. Dieses Kribbeln der Maden an der Wange, das Geschmatze der Schlange, die sich durch die Gehirnmasse fraß. Dieser nasse, knöcherne Druck auf meiner Schädeldec ke und das verfaulte Fleisch ihres Arm es auf meinen Schultern. Alles würde verschwinden. Ich musste Any nur darum bitten.
»Bitte«, flüsterte ich. »Ich will das nicht sehen.«
Dann schließ die Augen, Jacky .
»Aber ich habe Angst, dass etwas noch Schlimmeres kommt, wenn ich sie wieder aufmache.«
Es ist alles schon geschehen. Es ist nur ein Traum. Du kannst jederzeit aufwachen.
Ich vertraute Any. Sie hatte mich nie enttäuscht. All die Jahre, die sie über mich wachte, die sie mir zur Seite stand, wenn ich bewegungsunfähig vor Angst in meinem Feldbett lag, in dieser fensterlosen Kammer, neben Putz- und Lebensmittel. Wenn ich seine gelallten Worte hörte, das Klirren und Krachen, das Klatschen und die Schmerzensschreie meiner Mutter. Wenn sie in ihren Gedanken brüllte, er möge sie doch endlich umbringen und die Sehnsucht nach dem Tod einen weiteren Teil ihrer Seele vergiftet hatte – dann war Any da und beschützte mich. Sie lag neben mir und gab mir Wärme. Gab mir Hoffnung, dass dieser Alptraum eines Tages vorbei sein würde. Any würde dafür sorgen.
Ich schloss die Augen.
»Pscht«, sagte Mutter und strich über mein Ohr. Dann begann sie zu summen. Kaum hörbar. Aus dem Summen wurden Worte. »Somewhere, over the rainbow, skies are blue. And the dreams Jacky dares to dream, really do come true.«
Als ich die Lider öffnete und den Kopf hob, blickte ich in ihre großen, türkisblauen Augen. Sie glänzten wässrig und wirkten wie ein Aquarell aus allen Farben der Traurigkeit. Von den Augenwinkeln flossen glitzernde Tränen und hinterließen schwarze Spuren auf den Wangen. Die Lippen waren rot. Blutrot. Sie zitterten.
Die Pupillen fixierten mich, als würde Mutter auf eine Antwort warten. Auch wenn sie die Frage nicht gestellt hatte, kannte ich sie. Ich fasste nach den Fingern auf meinem Ohr, wollte ihr sagen, dass sie die Tabletten unter der Matratze nicht anrühren durfte, dass sie nicht weggehen durfte, dass ich sie brauchte. Aber ich schüttelte nur den Kopf und sie starrte mich an, als hätte sie meine Antwort nicht verstanden.
Ich saß auf ihrem Schoß inmitten des Wohnzimmers. Ich wusste, dass es das Wohnzimmer sein musste, auch wenn die Wände aus schwarzen Felsen bestanden. Zwische n den Steinen quoll dunkelrote Brühe hervor und tropfte mit durchdringendem, schwerem Platschen auf den Boden. Das gesamte Zimmer war knöchelhoch davon überschwemmt und mir schien, dass sich die Oberfläche bewegte, als schwämme etwas dicht darunter. Ein Fisch vielleicht. Oder eine Schlange.
Links im Eck stand ein Fernsehgerät. Es lief ein Kinderfilm. Ein kleines Mädchen mit hellen Spirallocken sprang singend über einen Kiesweg, begleitet von einem Löwen, einer Vogelscheuche und einer Art Roboter. Auch über das Fernsehgerät rann nun die rote Brühe und es dauerte nicht lange, bis von dem Bild nichts mehr zu sehen war.
»Wo ist er?«, fragte das Mädchen.
»Keine Ahnung, Kleines«, antwortete einer ihrer Begleiter.
»Aber ich muss es wissen. Er muss sich doch verstecken, wenn er kommt.«
»Nein, er muss kämpfen wie ein Löwe.«
»Er ist aber kein Löwe. Er ist nur ein kleiner Junge.«
»Aber er hat seine Mom und Any. Sie werden ihm helfen.«
»Wenn er aber doch solche Angst hat.« Das Mädchen schrie schrill auf. »Er kommt! Versteckt euch!«
Mutter zuckte zusammen. Ihre Arme umklammerten mich. Ihr Blick war auf die Eingangstür der Wohnung gerichtet. Türkise Flammen schlugen von dort in das Zimmer. Heiß und gierig schnappten sie
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