Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
hatte sie gesehen. Ich hatte sie gesehen. Leise schleicht sie sich an Patricia heran, versteckt sich hin ter vertrauten Personen und schnappt dann, wenn die Kleine sich in Sicherheit glaubt , blitzschnell zu. Wie bei Tommys Unfalltod. Patricia war glücklich. Patricia warf den Ball. Zisch! Und schon schlug dieses Biest ihre Zähne in Tommys Hinterleib.
Irgendetwas mahnte mich zur Eile. War es Intuition? Any? Oder – und dieser Gedanke war für mich so plausibel, dass er mich zittern ließ – war es Patricia selbst? Durch das Tagebuch?
Unsinn. Wie sollte das möglich sein? Andererseits – warum hatte ich diese Vision in meinem Kopf? Wie sollte das möglich sein? Gab es eine Verbindung zwischen Patricia und mir, wie es eine Verbindung zwis chen Any und mir gab? Ein telep at h ischer Hilfeschrei, den sie in der Dunkelheit ausstieß, in der Hoffnung, irgendjemand würde sie hören? Warum auch immer: Ich hatte das Tagebuch und ich hatte diese Vision. Und nun hatte ich einen Weg, Patricia zu erreichen und sie vor diesem Eddie zu beschützen. Ich musste nur mit Sandra Berington in Verbindung treten.
Dass mein Gefühl, die Zeit würde knapp werden , keine Einbildung war, zeigte mir der nächste Eintrag. Etwas veränderte Patricias Welt. Schon im letzten Eintrag schrieb sie davon, dass es im Haus dunkler wurde. A uch wenn ihre Mutter meinte, dass Patricia sich täuschen würde, wusste ich es besser: Die Dunkelheit war in ihr Leben getreten – und alles deutete darauf hin, dass sie nach und nach jedes Fünkchen Licht in Patricias Leben auslöschen würde.
Heute waren wir in Sandras Praxis. Sandra hat zu Mom gesagt, dass es eine Operation gibt, und ich danach vielleicht wieder laufen kann. Mom hat gesagt, dass ich kein Versuchskaninchen bin und dass sie es nicht erlaubt, dass irgendwer an mir herumschnippsel t . Ich habe geweint.
Warum macht Mom das? Warum will sie nicht, dass ich wieder laufen kann? Ich will, dass Daddy wieder da ist. Daddy hätte ihr sicher gesagt, dass er diese Operation will. Mein Daddy hat mich nämlich lieb. Aber meine Mom mag mich nicht mehr. Weil ich Tommy umgebracht habe.
Ich war den ganzen Tag in meinem Zimmer. Ich habe beim Fenster rausgeschaut und die Dunkelheit gesehen. Der Himmel ist ganz schwarz. Auch der Garten und die Sonne. Alles ist schwarz und wird immer schwärzer.
Ich will zu Eddie. Ich glaube , er und Sandra und Daddy sind meine einzigen Freunde. Und ich bin sicher, dass Eddie auch will, dass ich wieder laufen kann. Morgen sehe ich ihn wieder. Und Sandra. Ich freue mich darauf. Aber jetzt ist es dunkel. So dunkel und so kalt. Ich werde mich jetzt ins Bett legen und m ich unter der Decke verstecken .
Ich hoffe, die Dunkelheit findet mich dann nicht.
( Daddy hat heute auch nicht angerufen. )
Operation? Wenn Sandra Berington eine Operation vorschlug, wie konnte Patricias Mutter ablehnen? Würde man sich als Mutter nicht an jeden Strohhalm klammern , wenn dadurch auch nur die kleinste Chance bestünde, das Kind aus dem Rollstuhl zu holen? Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Und ich hatte eine dunkle Ahnung. So dunkel wie die Welt vor Patricias Fenster.
War es doch nicht Tommys Tod, der Patricias Welt verdunkelte? War der Unfall des Hundewelpen nur der Anbruch der Dämmerung? Stand die eigentliche Nacht noch bevor?
Das Verhalten ihrer Mutter schien meine Vermutung zu bestätigen. Patricia spürte, dass etwas nicht stimmte. Zwar führte sie es auf Tommys Tod zurück, an dem sie sich die Schuld gab, aber intuitiv fühlte sie, dass es etwas anderes war. Etwas Schlimmeres. Sie sah Finsternis aufziehen. Sie sah das Schwarz in ihrer Welt wie das drohende Unheil eines heranrasenden Hurrikans.
Patricia konnte sich noch so tief unter der Bettdecke verstecken – die Finsternis würde sie finden. Sie würde sie auffressen und sie in das erste Licht treiben, das sie erblicken würde. Wie eine verirrte Biene in der Nacht würde sie zu dem violettschimmernden Glanz fliegen und mit einem heißen Zischen am Hochspannungsdraht verglühen. D ieser Glanz war Eddie. Ich wusste es. Ich spürte es.
Ich wollte Patricia in Schutz nehmen, wollte ihr beistehen, ihr Hoffnung geben. Aber nichts auf dieser Welt würde sie von ihrem Weg in das Licht abbringen. Sie flog unbeirrbar darauf zu.
Mein Herz raste. Ich versuchte mir einzureden, dass ich mich täuschte, dass alles nur Einbildung war. Aber der nächste Eintrag schürte meine Befürchtung.
Mama hat heute den ganzen Tag geweint. Aber
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