Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
sie sagt mir nicht warum. Ich wollte sie trösten, aber sie hat mich in mein Zimmer getragen und ist dann in ihr Schlafzimmer gelaufen . Da habe ich auch geweint.
Später hat sie etwas gesagt, das ich nicht verstanden habe. Sie sagte, dass wir morgen Daddy besuchen gehen. Aber Daddy ist doch mit der Arbeit in Washington? Ich habe sie gefragt, ob wir nach Washington fahren , d a hat Mom Nein gesagt und wieder zu weinen angefangen.
Ich habe Sandra und Eddie heute nicht gesehen. Mom hat mich gleich von der Schule abgeholt. Sie hat Urlaub, hat sie gesagt. Aber morgen darf ich wieder ins Heim, wenn ich will. Nachdem wir Daddy besucht haben.
Ich verstehe meine Mom nicht. Sie ist so traurig.
Und ich auch.
Mir ist jetzt ganz kalt. Die Finsternis kommt durch das Fenster in mein Zimmer. Der Teppich ist schon schwarz. Und das Puppenhaus auch. Langsam kommt die Dunkelheit näher. Sie macht mir Angst. Daddy? Wann kommst du endlich wieder heim? Ich vermisse dich so sehr!
»Nein«, flüsterte ich. »Bitte nicht.« Ich starrte auf die Buchstaben. Daddy? Wann kommst du endlich wieder heim? Patricia saß an ihrem Schreibtisch. Ich konnte sie sehen. Konnte sie weinen hören. Sie wusste, was die Dunkelheit zu bedeuten hatte. Patricia hatte diesen sechsten Sinn. Das erklärte, warum sie mit mir in Verbindung stehen konnte. Nein, nicht mit mir. Mit Any . Das Tagebuch empfing Patricias Gefühle, speicherte sie und übertrug sie über Any an mich. Wohl nur zu dem einen Zweck, das Mädchen vor der drohenden Gefahr aus der Dunkelheit zu beschützen. In diesem Schwarz lauerte ein Raubtier, das auf die erste Gelegenheit wartete, seine Reißzähne in den wehrlosen Körper der Kleinen zu hauen. Das Raubtier hieß Eddie. Und die Dunkelheit hieß Tod.
Der Tod ihres Vaters.
Ich blätterte um und starrte auf eine Zeichnung. Aus wenigen Strichen hatte Patricia ein schwarzes Bett gemalt. Darin lag ein vollbärtiger Mann ohne Haare. Rote Striche bildeten die Augen. An der Brust befand sich ein eingravierter schwarzer Kreis. Neben dem Bett hatte die Kleine ein zerbrochenes rotes Herz gemalt. Die Zeichnung war mit tiefen schwarzen und roten Strichen zickzack übermalt. Das Papier dieser Seite war uneben. Die Farben fleckenweise verronnen.
Ich konnte die Verbitterung sehen, die in jedem einzelnen dieser Striche lebte, als würde das Schwarz und Rot aus Gefühlen bestehen. Vermutlich hatte ihr Vater Herzprobleme, war unter dem Vorwand einer Dienstreise in ein Krankenhaus gefahren, um eine Operation durchführen zu lassen. Eine Herztransplant at ion vielleicht? Irgendetwas ist dabei passiert. Etwas, das Patricias Vater sterben lassen würde. Vor seinem Tod wollte er noch einmal seine Tochter sehen. Es passte alles zusammen. Die Veränderung von Patricias Mutter, die Ablehnung der Operation an ihrer Tochter, ausgelöst durch den Misserfolg des Eingriffes an ihrem Mann. Ihre Mutter hatte Angst. Furchtbare Angst um ihr kleines Mädchen.
Ich hoffte, ihre Mutter wäre zumindest jetzt für ihre Tochter da, würde sie in dieser eisigen Nacht wärmen. Aber ich fürchtete, dass Patricias Mutter selbst Wärme brauchte. Wer würde sie ihr geben? Patricia fror. Und es gab keine Bettdecke, die Mutter ihr nachts bis über die Nasenspitze hochziehen würde. Ohne Decke würde das Mädchen ein Opfer der eisigen Dunkelheit werden.
Dass ich mit meinen Gedanken richtig lag, zeigten die weiteren Einträge. Sie waren nun nicht mehr fein säuberlich einer nach dem anderen auf eine Seite geschrieben, sondern standen wirr auf den Blättern. Kreuz und quer, als hätte Patricia das Tagebuch beim Schreiben auf die Oberschenkel gelegt, und schnell zwischendurch hineingekritzelt. Ein Eintrag, vom linken Seitenrand zum rechten oberen Eck geschrieben, lautete: Mir ist so kalt. Auch wenn die Sonne scheint. Es ist überall Schatten. Er verfolgt mich überall hin. Er sieht aus wie ein tiefes schwarzes Loch u nd ich habe Angst, dass ich hineinfalle. Ich schreie um Hilfe. Aber niemand hört mich.
Am unteren Seitenrand stand schwer leserlich: So viele Menschen und keiner sieht mich. Hat der Schatten mich schon aufgefressen?
Quer über die nächste Seite: Daddy! Wo bist du?
Nach dem Umblättern sah ich eine Zeichnung. Eine Gestalt mit Flügel. Ein Engel vielleicht? Mit Glatze und Vollbart. Darunter stand: Wenn du jetzt fliegen kannst, dann flieg sofort zu mir. Wenn du jetzt zaubern kannst, dann zaubere mich fort von hier. Ich vermisse dich so sehr.
So sehr mich diese Zeilen
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