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Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Titel: Das Tagebuch der Patricia White (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Carlo Ronelli
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als bestünde sie aus Butter, und trat knapp oberhalb der Hüfte wieder aus. Der Oberkörper kippte seitlich weg. Das Lachen des Wolfes wurde lauter, als würde es ihn amüsieren, entzweigehackt worden zu sein.
    Saubere Arbeit, Jack!
    Wieder und wieder hackte ich auf ihn ein. Wie ein Besessener. Ich musste ihn zum Schweigen bringen. Doch mit jedem Hieb wurde das Lachen lauter, mit ihm das Brüllen des Säuglings und das Platschen des Schlamms auf den Boden. Warmes Blut umspülte meine Füße. Es kroch an mir hoch, erreichte meine Brust, den Hals, das Kinn, die Lippen, die Nase. Dann sah ich alles in einem dunklen Rot.
    Die steakgroßen Stücke des Wolfes zuckten, als ich durch sie hindurchwatete und in Richtung Schlafzimmer ging.
    Mutters Stimme wirkte traurig. » … and the dreams Jacky dares to dream really do come true.« Sie sang zur Melodie einer alten Spieluhr. Laut dröhnte der metallene Klang durch die Wohnung.
    Tiefroter Schein drang durch den Spalt der angelehnten Schlafzimmertür, als würde die Luft bluten. Ich drückte gegen das Türblatt, schloss geblendet die Augen, scheute mich , sie zu öffnen, weil ich wusste, welches Bild mich erwarten würde.
    Meine Mutter tanzte vor ihrem Rollstuhl. Sie hob den rechten Arm und gleichzeitig das linke Bein, senkte beide Gliedmaßen und wiederholte die Bewegung mit dem linken Arm und dem rechten Bein. Dann begann sie von vorne. Wieder und wieder. Es wirkte mechanisch, als würde sie von einer Art Motor angetrieben. Der Kopf blickte starr in meine Richtung. Die Li ppen bewegten sich . »Somewhere over the rainbow … «
    Von den Hand- und Fußgelenken führten Drähte zur Zimmerdecke, ebenso von ihrem Genick.
    » … skies are blue … «
    Auf dem Nachttisch stand eine Spieluhr. Eine metallene Dose, etwa zehn Zentimeter im Durchmesser und fünfzehn Zentimeter hoch. Geschwungene Füße trugen sie. Der Deckel der Dose war aufgeklappt, an dessen Innenseite befand sich ein Spiegel. Vor dem Spiegel drehte sich eine Balletttänzerin. Den rechten Arm in die Höhe, das linke Bein nach hinten gestreckt.
    » … and the dreams Jacky dares to dream … «
    Mutter tanzte. W einte. Dann schrie sie.
    »Really! Do! Come! True!«
    Ich konnte dieses Bild nicht ertragen. Ich musste Mutter von den Drähten schneiden. Ich musste sie retten.
    Erlöse sie, Jack!
    Ich ging auf sie zu und hob die Axt.
    »Warum hast du mir das angetan?«, fragte sie.
    Ich ließ die Axt sinken. »Angetan? Warum, Mom? Warum ich?«
    Weil du es bist.

12
     
    Als ich erwachte, war es Nacht. Schwaches Neonlicht fiel durch die indirekte Beleuchtung hinter mir an die Mauer. Der Rollstuhl stand an der Wand vor dem Fußende meines Bettes. Wie das frischpolierte Chrom eines fabriksneuen Cadillacs blitzte der Rahmen in das Halbdunkel. Nur das leise Surren der Neonröhre war zu vernehmen. Und mein hastiges Atmen.
    Das Nachthemd klebte nass an meiner Haut, als hätte jemand einen Eimer Wasser über meinen Körper geschüttet. Meine Arme zitterten, ebenso die Beine. Ich musste mich in einem Schockzustand befinden, da ich keinen Schmerz spürte. Nicht in der Armbeuge und auch nicht in meinem Oberschenkel.
    Ich hasste meine Träume. Insbesondere diesen letzten. Was war in meiner Kindheit geschehen, das mein Gehirn dazu veranlasste, derartige Bilder zu schicken? Was immer es war – ich wollte mich nicht daran erinnern. Ich wollte nicht wissen, was der Wolf mir und meiner Mutter angetan hat te . Es war zweifellos der maßlose Hass auf meinen Vater, der mich zu solch brutalen Träumen veranlasste, mich zu einem Schlächte r werden ließ . All die Gedanken, die diese Träume in mir auslösten, schufen Nahrung für mein Gehirn, das wie ein hungriger Teufel neue Träume produzierte. Noch grausamer, noch realer, noch furchteinflößender. Aber es waren nur Träume. Informa tionen meines Gehirns, in Horror-Szenarien wider gespiegelt . Nichts weiter. Ich durfte nicht daran denken. Denn dadurch würde ich nur diesen Teufel füttern. Aber ich wollte ihn nicht füttern, sondern verhungern lassen. Bevor er mich vollends um den Verstand brachte.
    Aber was wäre, wenn mir mein Gehirn nicht meine Vergangenheit zeigte, sondern Bilder lieferte, die Any mir geschickt hatte? Wenn es sich also um die Zukunft handelte? Wollte Any mir helfen, Patricia zu finden? Sie zu retten?
    Im Traum mit der Schlange hatte sie mir gesagt, dass es nicht mein Traum wäre. Inzwischen war ich davon überzeugt, dass es sich um Patricias Traum handelte. War dann

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