Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Titel: Das Tagebuch der Patricia White (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Carlo Ronelli
Vom Netzwerk:
nichts, legte nur ihren Arm um mich und schmiegte den Kopf an meine Brust. Aber in dieser Situation konnte mich niemand trösten. Es gab keine Hoffnung. Sie war mit Patricia in d er Flammenhölle verbrannt. D ann spürte ich eine innere Barriere, die mich wünschen ließ, nicht berührt zu werden. Anfangs wusste ich es nicht genau, doch letztlich war ich überzeugt: Ich wollte nicht, dass Sandra mich berührte. W eil sie für mich wie eine Fremde war? Vermutlich. Welchen anderen Grund hätte es geben können?
    Ich brachte es aber nicht über das Herz, sie wegzudrücken. Ich ließ es geschehen, suchte aber krampfhaft nach Worten, die mich von diesen Gedanken – und Sandra von mir – abbrachten.
    »Meine Wohnung«, sagte ich schließlich. Sandra blickte auf. »Ich war gestern dort.«
    »Du hast dich erinnert, wo du wohnst?« Ihre Augen blitzen kurz auf, als hoffte sie, dass mein Gedächtnisverlust bald vorüber sein würde. Sie hatte es nicht glauben wollen, dass es so etwas tatsächlich gab. Keine Erinnerung zu haben. Nicht zu wissen, was man ein Leben lang getan hatte, wer man war, und was die letzten Gedanken waren, bevor man ohne sie wieder erwachte.
    »Vielleicht sind es die letzten Gedanken nicht wert, dass man sich an sie erinnert?«, fragte ich sie und fokussierte einen rosa Luftballon, der traurig auf dem Boden lag. Ihre Frage, wie ich das meinte, beantwortete ich mit einem feigen »Nicht so wichtig « .
    Ich erzählte ihr nichts von meinem Selbstmordversuch. Ich schämte mich dafür, weil ich dann wie ein Feigling dagestanden hätte, der davor flüchten wollte, die Verantwortung für den Tod eines kleinen Mädchens zu übernehmen. Die Vorstellung, wie Patricia qualvoll in ihrem Zimmer verbrannte, schnürte mir die Kehle zu. Um so mehr, als ich das Bild meiner letzten Vision immer noch deutlich vor Augen hatte. Doch noch drückender war die Vorstellung, dass ich an ihrem Tod die Schuld trug.
    Konnte es einen besseren Grund geben, sich das Leben zu nehmen?
    Mir fiel keiner ein .
    Hatte ich mit meinem Selbstmordversuch nicht meine Schuld eingestanden? War mir klar geworden, dass Patricia wegen mir hatte sterben müssen? War dieser Vorfall der Grund für die grauenhafte Vision, die mich gnadenlos verfolgte? Dieses brüllende Gesicht, die Tränen, der Schmerz, der sich in den hellblauen Augen spiegelte?
    Wahrscheinlich.
    Ich scheute mich, weiter darüber nachzudenken, denn eines war offensichtlich: Es passte alles zusammen. Ich war für den Tod des Mädchens verantwortlich und mein Gehirn verarbeitete diese Schuldgefühle in Visionen, die mich bis in meine Träume verfolgten.
    Und dann hatte es versucht, alles zu vergessen.
    Mit mangelhaftem Erfolg.
    Ja – Patricias Flammentod war die Ursache für meinen Selbstmordversuch. Die Ursache für den Wahnsinn, den ich tief in mir spürte, wie Hände, die sich durch meine Eingeweide wühlten, daran zerrten, um sie mir Stück für Stück aus dem Körper zu reißen.
    Dass der Selbstmord nicht gelungen war, konnte nur einen Grund haben: Gott wollte es mir nicht so einfach machen. Ich musste die Verantwortung übernehmen. Auch wenn es sich seltsam anfühlte, den Kopf für etwas hinzuhalten, an das ich mich nicht erinnern konnte.
    Ich hatte noch keinen Plan, aber ich musste die Wahrheit über mich und diesen Brand herausfinden. S ollte ich die Kleine tatsächlich nicht gesehen haben, obwohl sie sich in ihrem Zimmer befunden hatte, m usste ich dafür einstehen. W as immer mich dann erwarten würde – ich würde es ertragen und mit dieser Schuld leben .
    »Wie war sie?«, fragte ich Sandra. Sie saß neben mir auf der Ledercouch, hielt meine Hand und hob die Augenbrauen, als hätte ich sie mit meiner Frage aus ihren Gedanken gerissen.
    »Patricia«, wiederholte ich. »Wie war sie?«
    Sie blickte an mir vorbei und lächelte. »Wunderschön«, sagte sie.
    Es genügte dieses eine Wort, um sie vor mir erscheinen zu lassen. Ihre strahlenden blauen Augen, die Spirallocken, die ihr ins Gesicht fielen und die sie sich mit einer hektischen Bewegung aus der Stirn strich. Das Lächeln, wenn ihr Vater sie aus dem Rollstuhl hob und küsste. Ihr schmerzerfüllter Blick und ihre grellen Schreie, als die Flammen sie erfassten und ihrem Leben ein qualvolles Ende bereiteten.
    »Sie war ein kleiner Wirbelwind«, sprach Sandra weiter. »Sie hat immer wieder gesagt, dass ich ihre Freundin wäre. Ich kannte sie von dem Tagesheim drüben in Castleton Corners. Hatte ein paar Mal mit ihr gesprochen.

Weitere Kostenlose Bücher