Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
Aber warum war ich damals derart überzeugt gewesen? Hatte ich einfach nur hoch gepokert? Nein. In dieser Situation pokert man nicht. Man bringt Fakten. Abgesehen davon hatte ich später Dave angerufen und ihm gesa gt, dass ich etwas überprüfen mü sste. Um diesen Hinweis kann es sich dabei nicht gehandelt haben. Was war es dann?
Hearing lächelte wieder. »Ich habe bei Ihrer Feuerwache angerufen und dem Captain mitgeteilt, dass Sie an dem Tod des Opfers keine Schuld trifft. Ihre Suspendierung ist mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Für mich ist der Fall abgeschlossen. Das ist jetzt Aufgabe de r Polizei .«
Ich schüttelte den Kopf. Hearing hob die Augenbrauen. »Nein?«, fragte er.
»Für mich ist der Fall nicht abgeschlossen«, sagte ich leise. Hearing nickte, als verstünde er meine Beweggründe. Aber er konnte sie nicht verstehen. Er wusste nichts von meiner Verbindung zu Patricia, von dem Tagebuch und meinen Visionen. Für ihn war Patricia nur ein Fall, den man delegiert, weil er nicht weiter in den eigenen Z uständigkeitsbereich fiel. F ür diese Möglichkeit beneidete ich ihn.
Ich nickte zu der braunen Mappe. »Darf ich mir die Unterlagen noch einmal ansehen?«
Hearing zuckte mit den Schultern und schob die Mappe über den Schreibtisch. »Klar. Wenn Sie möchten. Aber Sie haben schon alles gesehen. Außer dem Untersuchungsbefund ist nichts Neues dazugekommen.«
Ich griff nach der Mappe und schlug sie auf. Der Brandbericht des Captains lag obenauf. Ich las ihn und musste Dave Recht geben, dass darin nicht viel stand. Demnach war die Feuerwache auf Staten Island um 0:23 alarmiert worden und mit einem Löschzug zum Haus der Familie White in der 528 Herold Street losgezogen. Das Erdgeschoss stand bereits in Flammen und laut Hinweisen der Nachbarn befanden sich in dem Gebäude zwei Personen. Mrs. White und ihre Tochter Patricia. Dave und ich waren im Haus und hatten im Dachgeschoss nach den beiden gesucht. Die Mutter fanden wir bewusstlos im Schlafzimmer. Dave brachte sie durch das Fenster in Sicherheit. Ich suchte nach dem Mädchen, konnte sie aber nicht finden. Eine Gasexplosion brachte das Gebäude zum Einsturz. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich im Erdgeschoss in der Nähe des Eingangs, wo mich meine Kollegen kurz nach der Explosion gefunden hatten. Beinahe unverletzt. Ich hatte zu Protokoll gegeben, dass das Mädchen sich nicht in dem Haus befunden hatte. Ihre Mutter wurde in die Universitätsklinik von Staten Island gebracht und war zum Zeitpunkt des Berichtes noch nicht vernehmungsfähig.
Ich wollte Hearing fragen, ob die Behörden Patricias Mutter inzwischen gesprochen hätten, unterließ es jedoch, nachdem ich umgeblättert hatte. Ich las das Vernehmungsprotokoll von Mrs. White, in dem sie angab, dass sie Patricia um 8:00 Uhr abends in ihr Bett gebracht hatte. Sie selbst war um 10:00 Uhr nachts schlafen gegangen. Um diese Zeit war Patricia in ihrem Zimmer, da sie jeden Tag vor dem Zubettgehen hineinblickte, um zu sehen, ob mit ihrer Tochter alles in Ordnung wäre. Sie gab weiters zu Protokoll, dass es Patricia nicht möglich gewesen wäre, das Haus ohne fremde Hilfe zu verlassen.
Um 0:23 stand das Haus in Flammen. Demnach musste Patricia zwischen 10:00 und 0:00 Uhr nachts aus dem Haus gebracht worden sein.
Ich blätterte weiter. Blickte zu Hearing. Er wandte den Kopf ab, als versuchte er, sich den Anblick der Fotografie zu ersparen.
Patricia. Inmitten der Trümmer des Hauses. Ich wusste, dass ich bereits viele Brandopfer gesehen hatte. Dass ich sie aus der glühenden Hölle gezogen hatte und mich vermutlich im Laufe der Jahre an diesen Anblick gewöhnt hatte. An die rot-schwarze Haut, die sich in Fetzen von den Körpern schälte. An die Kleidungsreste, die an dem blutigen Fleisch klebten. Die Haare, die in verkohlten Büscheln an der verbrannten Kopfhaut hingen. Die weit hervorgetretenen lidlosen Augen, fehlende Lippen und verkohlte Nasenknorpel, die jedes Gesicht in eine angsteinflößende Maske verwandelten. An diesen Anblick hatte ich mich gewöhnt. Aber dieses Bild?
»Brandopfer sind nie schön«, sagte Hearing ohne den Blick auf mich oder das Bild zu richten. »Aber bei Kindern ist es jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung, nicht sofort den Dienst zu quittieren und diese ganze Scheiße zu vergessen.«
Ich nickte. Versuchte es zumindest. Hearing brachte es auf den Punkt. Der Anblick von Patricias verbranntem Körper schürte etwas in mir, dass es mir unmöglich machte, einen klaren
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