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Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Titel: Das Tagebuch der Patricia White (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Carlo Ronelli
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haben? Wohl nur, dass dieses Mädchen zum Zeitpunkt des Feuers nicht im Haus gewesen war. Aber welchen Hinweis konnte ich ihm gegeben haben? Irgendetwas musste ich hier gesehen haben. Ein Foto vielleicht, auf dem etwas nicht stimmen konnte? Etwas, das einen Denkanstoß verursacht hatte, einen Verdacht, der Hearing dazu veranlasste, Untersuchungen durchführen zu lassen, die man bei einem Brandopfer üblicherweise nicht durchführte? Das schien mir plausibel – a uch wenn ich keine Ahnung hatte, was auf diesem Bild abgebildet war und diese K ettenreaktion ausgelöst hatte. Aber ich würde es jeden Moment erfahren.
     
    Hearing empfing mich mit einem Lächeln. Er lehnte sich weit in den Bürosessel zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
    Ich schätzte ihn auf Mitte Dreißig. Der Oberkörper wirkte trainiert, auch wenn man das durch das augenscheinlich zu weite weiße Hemd nicht hundertprozentig erkennen konnte. Die obersten zwei Knöpfe hatte er aufgemacht. Eine blaue Krawatte lag auf dem Schreibtisch.
    Die schwarzen Haare waren ordentlich gekämmt. Dunkle Augen strahlten mich aus einem gut gebräunten Gesicht an und der Dreitagebart gab ihm etwas Rebellenhaftes. Er wirkte nicht wie ein Bundesbeamter, eher wie ein Baseball-Star, der in einer dieser Dauerwerbesendungen auftrat, um Designer-Klamotten anzupreisen.
    Hearing nickte zu einem Stuhl, der an seinem Schreibtisch stand. Ich setzte mich und rückte den Sessel etwas nach rechts, da die Sonne mir direkt ins Gesicht schien. Hearing ließ sich nach vorne schwenken und applaudierte. Dabei lächelte er, als hätte er mir soeben einen Preis überreicht.
    »Nicht schlecht«, sagte er. »An Ihnen ist ein Ermittlungsbeamter verloren gegangen.«
    Ich hob die Schultern. Hearing würde diese Geste als Antwort auf seine Feststellung interpretieren. Für mich war es nicht mehr als: Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Ich musste das Gespräch in eine Richtung lenken, die Hearing dazu veranlasste, den Grund für seine Lobpreisungen zusammenzufassen.
    »Wäre schon eine Überlegung wert«, sagte ich. »Aber darauf wäre doch jeder andere auch gekommen, oder?«
    Hearing blickte mich fest an, als hätte er nicht mit dieser Aussage gerechnet. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf.
    »Nein, Jack. Darauf wäre ich nicht gekommen.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass das Opfer wo anders als in diesem Haus umgekommen ist. Davon wäre niemand ausgegangen. Sie natürlich ausgenommen.«
    »Na ja – ich war ja auch in diesem Haus und wusste, dass Patricia nicht da war. So gesehen musste sie woanders … « Ich machte eine kurze Pause. Mir fiel es schwer, das Wort auszusprechen. Schließlich schaffte ich es doch. » … getötet worden sein.«
    »Ermordet«, sagte Hearing und das Lächeln verschwand augenblicklich aus seinem Gesicht.
    »Ermordet«, wiederholte ich. Das Wort verursachte einen Krampf in meinem Hals. Ich fasste an den Kehlkopf und massierte ihn. »Sie sagten am Telefon, dass Sie mir die Details … «
    »Natürlich«, fiel Hearing mir ins Wort und fasste nach einer hellbraunen Mappe. White stand in schwarzen , handgeschriebenen Großbuchstaben darauf. Er klappte den Umschlag auf und griff nach einem Blatt Papier. »Das Ergebnis der Obduktion«, sagte er und reichte mir den Zettel.
    Obduktion stand dort als Überschrift. Darunter Patricias Name und einige Daten, wie Zeitpunkt der Untersuchung, Name des Pathologen und ein Hinweis, aufgrund welcher Umstände die Obduktion durchgeführt wurde: auf Anweisung der Brandbehörde, Robert Hearing. Danach folgte das Untersuchungsergebnis. Kurz und bündig.
     
    Es konnte kein Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Blausäure oder Phosgen in der Lunge festgestellt werden. Das Opfer ist demnach nicht an einer Rauchgasvergiftung sondern an den Folgen der Brandverletzungen verstorben.
     
    Ich blickte zu Hearing. Er nickte. Kein Rauchgas in der Lunge. Das war es also. Offenbar hatte ich Hearing auf die Tatsache hingewiesen, dass man Rauchgas in Patricias Lungen finden müsste , wenn sie sich in ihrem Zimmer aufgehalten hätte . Diese Behauptung war riskant. Bestand doch die Möglichkeit, dass das Mädchen in einem anderen Gebäude verbrannt war. Bei lebendigem Leib. Und sich dort die genannten Gase in der Lunge abgesetzt hatten. Ich musste mir sehr sicher gewesen sein, denn es schien mir unwahrscheinlich, dass ich bei meinem ersten Besuch in Hearings Büro diese Option außer Acht gelassen hatte.

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