Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
vernehmen.
»Ja, Boss?«
»Bring mir die Bilder von der Grabschändung.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trennte er die Verbindung.
»Na, dann machen Sie sich auf etwas gefasst. Ach ja, der Name … «
»Ja? Verraten Sie ihn mir?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »D as kann ich nicht. Aber suchen S ie im Internet nach dem Begriff Hart-Island-Project. Vielleicht finden Sie dort eine Antwort.« Wieder zwinkerte er mir zu.
»Hart-Island-Project«, wiederholte ich. »Werde ich machen.«
Ein hagerer, etwa zwei Meter großer Mann trat in das Büro und legte eine durchsichtige Mappe auf den Tisch. »Aber nicht, dass Sie sich wieder den Appetit verderben, Boss.«
»Ja, ja, schon gut.« Bourne blickte auf die Kunststoffschüssel, griff nach der Mappe und legte sie vor mir auf einen Stapel beschriebenes Papier. »Die Bilder … «, sagte er, stand auf und ging zur Tür. Dort blieb er stehen und blickte in den Vorraum.
In der Mappe befanden sich fünf Fotografien in der Größe eines Blattes Papier. Die Bilder waren hochauflösend ausgedruckt und Bourne hatte Recht: Sie waren nicht besonders schön.
Zwar hatte ich zu dem Mädchen auf dem Foto ke ine Beziehung wie zu Patricia, fühlte aber dennoch Grauen in mir hochsteigen, gepaart mit Zorn, da ich bereits bei dem ersten Foto überzeugt war, dass der Tod der Kleinen mit dem Mord an Patricia zusammenhing.
Sie lag zusammengekauert in dem Sarg. Die Knie gegen die Brust gepresst, die Arme umfassten die Schienbeine. Man hatte ihr ein hellrotes, langärmeliges Kleid angezogen, wodurch die graue, verbrannt e Haut (oder das, was davon übrig geblieben war) nur an den Händen und am Kopf sichtbar war. An den Füßen erkannte ich rote Schuhe. Ballerinas. Der Kopf war etwas nach oben gedreht. So entstand der Eindruck, das Mädchen würde versuchen zum Fotografen zu blicken, was ihm aber aufgrund der Lage nicht gelang.
Das zweite Bild zeigte den Sarg vom Fußende aus. Hier erkannte ich das Loch, das der Grabschänder ausgehoben hatte. Es war nicht sonderlich tief, jedoch unverhältnismäßig breit. Die Deckel weiterer Särge waren zu sehen . Ein Massengrab. Vier Särge konnte ich zählen, a lle breiter als der des Mädchens. Das dritte Foto war jenes aus dem Zeitungsbericht. Auf diesem Bild konnte man die Beine eines Mannes am linken Bildrand sehen. Im Sarg erkannte ich das Gesicht des Mädchens. Deutlich. Viel zu deutlich. Die lidlosen Augen starrten über den Rand des Sarges. Der Mund weit aufgerissen, wie das Maul eines tollwütigen, zähnefletschenden Köters. Das blutige Rot des Fleisches war zu einem schmutzigen Braun verwest und die Nase war nur noch als heller Fleck zwischen den Jochbeinen zu erkennen.
»Alles in Ordnung? Sie sehen blass aus.«
Bourne stand neben mir. Er griff nach dem Bild und zog es aus meinen Fingern. »Ist das Schlimmste von allen. Wir haben es unkenntlich gemacht. Wenn man es einmal gesehen hat, wird man es nicht mehr los. Ich habe seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Und kaum geschlafen. Verfluchte Scheiße!«
Ich nickte. »Ja«, sagte ich. »Sie verfolgen einen bis in die Träume … «
Nun nickte Bourne, als wüsste er, wovon ich sprach. »Ich beneide Sie nicht um ihren Job. Ihr seid ja andauernd mit solchen Bildern konfrontiert.« Er klopfte gegen meine Schulter. »Drüben auf Staten Island sagen Sie?«, fügte er hinzu.
»Was meinen Sie?«
»Ihre Feuerwache.«
»Ja.«
»Alles klar … «
Ich griff nach der nächsten Fotografie. Dabei erkannte ich, dass das fünfte Blatt kein Bild war. Darauf befanden sich Notizen. Grabschänder auf Hart-Island , konnte ich entziffern. Datumsangaben, und unleserliche Wortfetzen waren hingekritzelt worden . Im unteren Drittel des Zettels befanden sich Zahlen und Buchstaben, dreimal unterstrichen:
8/10 SI
Darunter stand: Unfallursache ungeklärt .
Vermutlich bezog sich die letzte Notiz auf den Todesumstand der Kleinen. Ein Unfall. Ungeklärte Ursache. Jetzt wurde mir auch klar, warum Bourne derart empfänglich für meine Mordtheorie war. Vermutlich hatte der Redakteur des Berichtes ebenfalls eine makab re Sensation vermutet und m ehr denn je hatte ich in diesem Moment das Gefühl, dass die New York Times ihre Sensation erhalten würde.
Bourne griff nach der Mappe. »Und? Alles gesehen?«
»Dieses eine noch«, antwortete ich und tippte auf die Fotografie. Darauf war der Sarg in Vogelperspektive aufgenommen. Wieder das Mädchen in all seiner Grausamkeit. Am Hinterkopf war ein Büschel blonder Haare zu
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