Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
Ich spürte es, hob die Zeitung hoch. Das Braun am linken Bildrand änderte die Farbe. Kaum erkennbar. Wahrscheinlich hatte man die Fotografie zugeschnitten. Ich vermutete anfangs ein Grün, was mir plausibel schien, da am Rand des frisch aufgeschütteten Grabes Gras und Unkraut zu finden wären. Nach näherer Betrachtung verwarf ich jedoch diesen Gedanken. Nein. Kein Gras. Kein Grün. Ein helles Blau. Ja ganz sicher. Jeans-Blau. Hier sah man Beine. Die Beine eines stehenden Menschen.
Dann wusste ich es. Es ging um die Größe des Sarges. Anhand der Beinlänge konnte es sich bei dem Sarg nur um den eines Kindes handeln.
Der Sarg eines Kindes. Gerade eben beerdigt. Um Patricia konnte es sich nicht handeln. Demnach musste es ein weiteres Kind gegeben haben, das bei einem Brand um s Leben kam. Und: wer immer diesen Sarg aufgebrochen hatte – er hatte mit diesem Fall zu tun.
Zugegeben. Eine kühne Behauptung. Aber es war eine unverrückbare Überzeugung in mir, die ich nicht erklären konnte. Ich wusste es. Als hätte ich mich soeben erinnert, was ich damals hatte herausfinden wollen: Ob Patricia das einzige Mädchen war, das auf diese Weise den Tod fand. Ich musste zur Redaktion der New York Times. Ich musste den Namen des Kindes erfahren.
Und die Umstände seines Todes.
Sam Bourne starrte mich zehn Sekunden lang an. Das Haar hing in graublonden Strähnen über die Ohren und seine stahlblauen Augen verstärkten den Eindruck, dass keine Instanz dieser Welt ihn umstimmen konnte.
Der Schreibtisch war das Chaos schlechthin. Computerausdrucke lagen ohne jedes erkennbare System auf der Tischplatte. Eine Lesebrille lugte unter einer Kunststoffschüssel hervor, wori n die Essensreste des Vortages, oder noch älter , ein liebloses Dasein fristeten. Spaghetti in einer eingetrockneten braunen Sauce. Stifte aller Längen und Farben sammelten sich neben der Tastatur, auf der ich eine eingetrocknete Nudel neben unzähligen Krümel zu erkennen glaubte.
Durch die offene Bürotür hörte ich Stimmen. Telefone surrten und übertönten kaum das Geräusch von emsigen Fingern, die auf Tastaturen hämmerten.
»Hören Sie, Mister Bourne. Es ist wichtig. Sie können sich auch die Erlaubnis der Angehörigen einholen. Ich muss den Namen wissen.«
Bourne schüttelte den Kopf.
»Dann sagen Sie mir wenigstens, ob es sich um ein Mädchen gehandelt hat.«
Bourne schüttelte abermals den Kopf.
»Jetzt helfen Sie mir doch! Es geht um Mord , Mister Bourne.« Ich betonte das Wort Mord in einer Weise, von der ich annahm, dass ein Journalist hellhörig werden musste. Zumindest erreichte ich damit, dass Bourne aufhörte, den Kopf zu schütteln. »Um einen Mord, von dem niemand etwas weiß. Auch das NYPD nicht.« Bournes Augenbrauen hoben sich. »Noch nicht«, fügte ich hinzu.
»Wie kommen Sie auf diese Vermutung?«
Sein Interesse war offensichtlich geweckt.
»Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Nur so viel: Ich bin überzeugt, dass ein Mörder kleine Mädchen entführt, sie missbraucht und dann verbrennt. Und ich glaube, er macht das so geschickt, dass die Polizei keinen Zusammenhang erkannt hat.«
»Und Sie haben diesen … Zusammenhang … erkannt? Was sind Sie? Privatschnüffler?«
»Nein. Ich bin beim Fire-Department . Drüben auf Staten Island. Und ob ich diesen Zusammenhang tatsächlich erkannt habe, stellt sich erst heraus, wenn ich den Namen dieses Mädchens von Hart Island erfahren habe.«
»Ich kann Ihnen den Namen des Mädchens nicht sagen.« Bourne zwinkerte mit einem Auge.
Ich lächelte. »Danke«, flüsterte ich ihm zu.
»Nichts zu danken, Mister Firefighter. Falls Sie Recht haben, mit Ihrem Zusammenhang , dann können Sie ja wieder bei uns vorbeischauen. Was halten Sie davon?«
»Könnte ich«, sagte ich. »Und nachdem Sie mir derart selbstlos geholfen haben … «
»Habe ich das?«
»Oh ja«, sagte ich, überzeugt, dass Bourne an meinem Angelhaken zuckte, wie eine Forelle, die am Ende der Angelschnur noch weitere, viel dickere Köder erhoffte. »Zum Beispiel, indem Sie mir die Fotografien gezeigt haben . V om Sarg. Ihr Fotograf hat sicherlich mehrere Aufnahmen gemacht.«
Bourne seufzte. »Sehen nicht besonders schön aus«, sagte er.
»Glauben Sie mir: Ihre Bilder werden meinen Highscore an Grausamkeiten für heute nicht mehr toppen.«
Bourne grinste. »Wenn Sie meinen … « Er schob ein paar Papiere zur Seite und tippte auf dem Nummernfeld seines Telefons. Ein Summton war über den Lautsprecher zu
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