Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
herausfinden.
Dave war sofort Feuer und Flamme, zu diesem Haus zu fahren und es unter die Lupe zu nehmen. »Vielleicht hat sich dein Vater dort versteckt? Sich selbst und die Kinder?« Das war auch meine erste Vermutung, die ich jedoch verworfen hatte, da mein Vater klug genug war, um zu wissen, dass ich dort zuerst suchen würde. Oder wollte er genau das? Wartete er dort auf mich, um das große Finale zu inszenieren?
Trotz dieses unangenehmen Gefühls gab ich Dave schließlich Recht. Wir sollten dieses Haus aufsuchen. Vielleicht stießen wir auf einen weiteren Hinweis über das mörderische Treiben meines Vaters? Und vielleicht fand ich auch heraus, was an diesem Haus eine derartige Ablehnung in mir verursachte.
Dave schlug vor, mich in seinem Wagen – einem rostigen , grünen Ford Mustang – mitzunehmen. »Lass uns mal in einem Auto fahren«, hatte er gesagt und auf meine Frage, ob mein Chevy denn kein Auto wäre, mit mitleidigem Grinsen geantwortet. »Autos fangen bei 200 PS an. Alles darunter ist nur Spielzeug.« Er sprach es und trat das Gaspedal durch. Der Mustang brüllte auf und wir rasten mit einem Höllentempo auf Staten Island zu – als könnte Dave es nicht erwarten, dieses Haus zu sehen. Oder war es dieses Haus, das es nicht erwarten konnte, mich zu sehen? Ein absurder Gedanke. Aber in diesem Moment glaubte ich, dass es genau so war.
Dave stellte den Motor aus und blickte auf das Gebäude keine zwanzig Meter vor uns. Der Regen trommelte gegen die Windschutzscheibe und ließ die Umrisse des Hauses innerhalb weniger Sekunden zerrinnen. Obwohl die Scheinwerfer des Mustangs mit zwei scharfen Kreisen auf die Hauswand strahlten, wirkte das Haus dunkel . Verwitterte graue Holzlatten glänzten nass an der Front. Sie umrahmten zwei doppelflügige Fenster im Obergeschoss. Darunter sprang e in Vordach nach vorne über die Veranda. Mittig im Erdgeschoss befand sich eine breite Eingangstür. Die Veranda erstreckte sich auf beiden Seiten bis etwa anderthalb Meter vor das Ende der Frontmauer und wurde von einem Holzzaun umschlossen, der aus nach oben zugespitzten Latten bestand. Wasser tropfte vom Vordach in den Garten, oder das, was irgendwann einmal ein Garten gewesen war. Knorrige Bäume schüttelten das Laub im böigen Wind. Hüfthohe, stachelige Pflanzen wucherten entlang der unregelmäßigen Steinplatten, die direkt zur Veranda führten.
Mit einem durchdringenden Quietschen schoben die Scheibenwischer das Wasser zur Seite. Dieses Wechselspiel zwischen zerronnen Konturen und gestochen scharfer Umrisse ließ das Haus lebendig wirken. Als würde das Haus uns ansehen. Und bei jedem Wischerschlag blickte es bedrohlicher.
»Spinne ich?«, fragte Dave, »Oder sieht dieses Haus wirklich aus wie ein Gesicht? Die beiden Fenster sind die Augen, die Veranda mit dem Zaun ein riesiges Maul mit spitzen Zähnen, und das Dach … «
Die Scheibenwischer quietschten und gaben erneut de n Blick auf das Haus frei. Das Dach reichte beiderseits weit in den Garten.
»Wie Haare«, sagte ich. »Nein. Du spinnst nicht. Ich seh‘s auch. Und ich finde, es sieht uns irgendwie böse an.«
»Verfluchte Scheiße! Du hast Recht. Vielleicht kommen wir besser, wenn es hell ist? Irgendetw as stimmt da nicht. Ich hab ein verflucht ungutes Gefühl . Keine Ahnung, warum.«
»Weil da drinnen etwas auf uns wartet. Etwas Böses. Aber es ist auch da, wenn es hell ist.« Ich öffnete die Wagentür und stieg aus. Dave folgte etwa zehn Sekunden später, holte noch etwas aus dem Kofferraum und lief dann zu mir.
Obwohl es massiv regnete und man bei so einem Wetter im Normalfall bestrebt ist, möglichst schnell ins Trockene zu kommen, gingen wir langsam auf das Haus zu. Fast schon vorsichtig, als würde es jeden Moment nach uns schnappen. Kurze, starke Böen umwehten uns. Von den Hausecken hörte ich leises Pfeifen. Dazu gesellte sich das Knarren der Äste, das Rascheln des Laubes und noch etwas, das ich nicht sofort einordnen konnte. Es schien aus dem Haus zu kommen. Das Pfeifen wurde greller. Das Geräusch aus dem Haus deutlicher. Kinderlachen. Als würde eine Geburtstagsparty stattfinden. Jetzt wieder. Deutlich konnte ich es hören. Ein Kind schrie »Ja!«, andere lachten laut auf.
Ich blickte zu Dave. Er hatte das Kinn gegen die Brust gedrückt und wischte die nassen Haare aus der Stirn.
»Hörst du das auch?«
Dave blieb stehen und starrte auf das Haus. »Was meinst du? Den Wind?«
»Nein«, sagte ich und vermutete, das Pfeifen des
Weitere Kostenlose Bücher