Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
erweckten, das Mobiliar wäre mit einem Netz aus Adern überzogen. Adern, durch die das Böse floss.
Dave ließ den Lichtkegel durch den Raum schweifen. Die Schatten bewegten sich, als wäre das Haus soeben zum Leben erwacht.
»Unheimlich«, flüsterte Dave mir zu, als hätte er Angst, die Möbel aufzuwecken. Dabei waren sie doch längst erwacht. Vermutlich zu dem Zeitpunkt, als Dave und ich beschlossen hatten, das Haus aufzusuchen. Die Couch mit dem geschwungenen Rückenteil, die sich rechts von uns um die Ecke zog. Der zimmerhohe Wandschrank gegenüber der Sitzgarnitur, dessen offene Regale sich durch das Leintuch drückten, als versuchten sie, sich nicht länger verbergen zu lassen. Der kreisrunde Couchtisch, auf dem das Tuch wie eine zu lange Tischdecke wirkte, die am Dielenboden scharfe Falten schlug und wie eine Gletscherzunge kaum erkennbar vorwärts kroch.
An den Wänden hingen drei verhüllte Bilder. Die Tücher bewegten sich in einem Luftzug. Die wuchtigen Bilderrahmen zogen mich an, drängten mich dazu, den Stoff wegzureißen. Gleichzeitig mahnte mich ein Teil in mir, dass es einen Grund geben musste , dass jemand sie verhüllt hatte. Einen guten Grund. Gewisse Wahrheiten sollten verborgen bleiben.
»Die Bilder«, sagte ich zu Dave, der daraufhin mit der Lampe auf die wehenden Tücher an der Wand leuchtete.
»Scheiße! Wo kommt der Wind her?«
»Ist ein altes Haus. Kann durch die Fenster kommen, oder durch Ritz en in der Wand. Keine Ahnung«, antwortete ich, ging auf eines der Bilder zu und hielt die Hand zur Mauer. Ein leichter Hauch war zu spüren. Warm. Wie der Atem eines Tieres. Etwa zwei Meter rechts von dem Bild befand sich ein schmales Fenster, von einem dunklen Vorhang verdeckt. Der Luftzug kam allem Anschein nach von dort und schlängelte sich an der Wand entlang.
Ich fasste nach dem Tuch und riss es vom Rahmen. Staub wirbelte durch die Luft und tanzte aufgeregt im Kegel der Lampe.
Ich blickte auf ein Ölgemälde in einem altertümlich anmutenden Rahmen. Der Künstler hatte eine Felswand gemalt. Wuchtige braune Steine, über die Wasser ausgehend von einer Quelle in mehreren Läufen in die Tiefe stürzte. Der Himmel war in Rottönen gehalten. Ein Sonnenuntergang, der sich im Felswasser rot spiegelte.
Die Malerei erweckte in mir ein Gefühl des Vertrauten. Plötzlich sah ich mich als Kind hier stehen und zu dem Bild aufblicken. Ich erinnerte mich an die Ge danken, die ich mir eines Tages als Zehnjähriger gemacht hatte . Obwohl ich das Bild täglich gesehen hatte, war das der Tag, an dem mir auffiel, dass diese Felswand wie die Brust eines Mannes aussah und d as Wasser wie Blut wirkte , das au s einer Wunde schoss. I ch hatte wieder und wieder von diesem Bild geträumt. Von der pulsierenden Felsbrust und dem steinernen Herzen, das dahinter schlug. Ich hatte Angst vor dem Bild – u nd dem, der es gemalt hatte.
»Wow!« Dave hatte sich neben mich gestellt. »Ein schönes Bild.«
»Hat mein Vater gemalt. Ich finde es grauenhaft.«
Dave starrte mich an. Diesmal schien er sich nicht zu freuen, dass ich mich erinnerte.
»Er nannte es ‚Leben‘. Doch ich bin überzeugt, dass er den Tod gemalt hatte.«
»Wieso Tod? Ich erkenne hier nichts, das auf den Tod hinweisen würde. Das Wasser aus einer Quelle des Lebens. Es stürzt sich in die Tiefe. Vermutlich wird daraus ein Fluss. Die Geburt eines Flusses im Sonnenuntergang. Also ich halte das für einen sehr philosophischen Ansatz.«
Ich überlegte, ob ich Dave in seinem Glauben lassen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich wies ihn auf die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Oberkörper hin. Darauf, dass sich genau bei der Quelle des Lebens – wie er es genannt hatte – das Herz befinden musste.
»Kein philosophischer Ansatz. Perverse Mordlust.«
Nach Daves Gesichtsausdruck zu urteilen, sah er das Bild nun mit anderen Augen. Kaum merkbar schüttelte er den Kopf und flüsterte: »Jetzt, wo du es sagst.«
Ich zog das Tuch von dem zweiten Bild. Eine Sumpflandschaft, durch die sich ein breiter Fluss zog. Der Flusslauf war von Büschen und Bäumen gesäumt, das Wasser in dreckigem Braun gehalten. An der Wasseroberfläche schwamm ein Ruderboot inmitten von Ästen und Blättern. Auch hier schimmerte der Himmel im Feuer der untergehenden Sonne und es schien, als würde der Horizont brennen und das Feuer mehr und mehr von der Landschaft Besitz ergreifen.
Dave fuhr mit dem Zeigefinger über die Oberfläche des Bildes, leuchtete mit der Lampe von
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