Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Titel: Das Tagebuch der Patricia White (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Carlo Ronelli
Vom Netzwerk:
unten gegen die Leinwand.
    »Es sieht so räumlich aus. Was immer für ein Arschloch dein alter Herr war – Malen konnte er. Wird wohl der Amazonas sein«, sagte er und blickte mich fragend an. »Wie heißt es? Ruderboot im Amazonas?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich erinnerte mich, wie ich mich als Junge immer wieder fragte, warum das Bild mir Angst machte. Ein Boot, ein Fluss, Sträucher und eine untergehende Sonne. Es war nichts auf dem Bild, das einen erschrecken konnte. Eines Tages wusste ich es dann: Genau dieses Nichts machte mir Angst. Nicht, was auf dem Bild zu sehen war, sondern was nicht zu sehen war. A uch dieses Bild hatte seinen Weg in meine Träume gefunden. Damals als Kind. Und heute.
    »Es heißt ‚Die Schlange‘.«
    »Hier ist aber nichts Besonderes drauf, oder?«
    »Nein«, sagte ich. »Und genau das ist das Besondere.«
    »Wie bitte?«
    »Es ist das, was man nicht sieht.«
    »Sei mir nicht böse, aber das ist Bullshit.«
    »Das Boot«, sagte ich. »Wo ist der Mensch, der mit dem Boot dort hingerudert ist?«
    »Verdammt Jack! Das ist nur ein Bild!«
    »Mein Vater hat nie nur ein Bild gemalt.«
    »Sieh dir diesen Ast an«, sagte ich und zeigte neben das Boot. Wie sieht er aus?«
    » Na ja , mit viel Fantasie wie ein … Knochen?«
    Ich nickte. »Und diese Äste da?«
    »Verflucht ja! Wie Rippen.«
    »Und die Blätter?«
    »Hände, Ohren, Augen … Scheiße.«
    »Das Besondere an dem Bild ist das U nsichtbare. Die kleinen gefräßigen Monster im Wasser.«
    »Piranhas?«
    »Ja, sie haben das arme Schwein ins Wasser gelockt und Stück für Stück auseinander genommen. Wenn du genau schaust, dann siehst du sie.«
    Dave trat einen Schritt näher. »Wo?«
    »Überall«, sagte ich. »Der Fluss – die Schlange – besteht nicht aus Wasser. Er besteht aus einem qualvollen Tod.«
    »Ja « , sagte Dave. »Ich sehe sie. Es sind nicht nur braune Ölpunkte. In jedem Punkt ist ein winziger roter Farbspritzer.«
    »Die Augen«, sagte ich und ging zur nächsten Wand. Dort hing das größte der drei Bilder. In dem Moment, als ich nach dem Leintuch grif f, wusste ich, was mich dahinter erwartete. Sie. Und nach all den Jahren würde sie immer noch für mich tanzen.
    Ich riss das Tuch vom Rahmen. Dave leuchtete auf die Leinwand. »Gott im Himmel«, entfuhr es ihm.
    Die blonden Haare waren sorgfältig zurückgekämmt und mit einem schwarzen Band zusammengebunden. Helle , blaue Augen strahlten mich an. Die Lider waren mit dickem Kajal nachgezogen. Auf den purpurroten Lippen war ein Lächeln zu erkennen. Sie hatte den Kopf zum Betrachter gewandt, blickte mir direkt in die Augen. Ihre Haut war hell, wodurch sich der Kontrast zu den dick umrandeten Augen und den roten Lippen steigerte. Sie trug ein hellblaues Ballettkleid mit kurzen Ärmeln. Die Beine waren von weißen Strümpfen bedeckt. Blassblaue Ballerinas an den Füßen bildeten den Abschluss.
    Sie hatte beide Arme erhoben, die Finger trafen sich über dem Kopf. Ein Bein streckte sie seitlich von sich, auf dem anderen stand sie auf Zehenspitzen. Sie tanzte auf einer Bühne. Beidseitig am Bildrand befanden sich rote Vorhänge. Der Lichtkegel eines Bühnenscheinwerfers erfasste sie, zeichnete um ihre Füße einen scharfen Kreis und tauchte das gesamte Bild in ein türkises Licht, das im Hintergrund in einem finsteren Grau versiegte.
    Ich kannte dieses Mädchen in - und auswe ndig. Jede Linie ihres Gesichtes war mir vertraut. Jedes einzelne Haar konnte ich im Geiste nachmalen. Wenn ich als Junge auf der Couch saß, hatte ich sie angestarrt, bis sie sich auf meiner Netzhaut eingebrannt hatte. Dann hatte ich die Augen geschlossen und bin auf diese Bühne geklettert. »Du bist so wunde rschön«, hatte ich gesagt. S ie hatte gelächelt. Einfach nur gelächelt, mit ihrem erhobenen Bein – und ihren Händen, so zart, dass ich mir genau vorstellen konnte, wie unglaublich schön es sein musste, sie zu berühren. Doch selbst wenn sie lächelte, wusste ich, dass sie traurig war. Ich wünschte mir, dass ich ein Held wäre. Groß und kräftig. Dann würde ich sie hochheben und sie von den Stahlseilen schneiden, die stramm gespannt, von ihren Beinen, den Handgelenken und dem Nacken zum oberen Bildrand führten, wo eine große behaarte Hand die Enden in den Fingern hielt.
    »Er muss davon besessen gewesen sein«, sagte Dave. »So hat er auch die Mädchen auf den Zeichnungen gemalt. Einfach unglaublich.«
    Ich fuhr mit dem Zeigefinger über ihre Wange. »Ja, er ist davon besessen.

Weitere Kostenlose Bücher