Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
Eine Besessenheit, die ihn in den Wahnsinn getrieben hat. Und dieser Wahnsinn machte ihn jetzt zum Mörder. Ich werde diesen Wahnsinn beenden.« Ich blickte mich im Haus um. »Beenden!«, brüllte ich. »Ich werde dich in die Hölle schicken und dort sollst du wirklich brennen! Hörst du mich, du perverses Arschloch?«
Mit den Bildern im Haus und den Zeichnungen von Doktor Overlook hatte ich eine Erklärung für meine Träume gefunden. Mein Gehirn hatte sich daraus eine eigene Geschichte zusammen gereimt und mir suggeriert, es handelte sich um Ereignisse aus meiner Kindheit. Das Wohnzimmer mit den Steinmauern, aus denen Blut floss, die Piranhas, die mich annagten, mein Vater als Werwolf, meine Mutter an den Stahlseilen, das türkise Licht, die Schlange, die Mädchen, die synchron tanzten, all diese Szenen konnte man in den Bildern meines Vaters finden. Dazu mischten sich reale Erlebnisse und alles zeigte eines auf eindringliche Weise: Mein Vater war vollkommen wahnsinnig und ich war bereits vor meinem Gedächtnisverlust davon überzeugt gewesen, dass er der Mörder von Patricia White war.
Nur diese Melodie – ‚Somewhere over the rainbow‘ – war nicht erklärbar. Was diese Melodie betraf, war Ich war jedoch überzeugt, dass ich auch für die Spieluhr eine Erklärung finden würde. Möglicherweise in einem der Zimmer hier im Haus.
Dave schüttelte den Kopf. Diese Geste verriet mir vor allem eines: Wenn Dave noch einen Funken Zweifel an der Schuld und der Lebendigkeit meines Vaters gehabt hatte, war dieser mit der Enthüllung der Primaballerina erloschen.
Wir schauten uns im Erdgeschoss in der Küche und dem Abstellraum um. Überall empfing uns dasselbe Bild: in weiße Leintücher eingehüllte Schränke, Tische und Sessel. Dave kam auf die Idee, die Leintücher von den Möbeln – vor allem den Tischen – zu nehmen, da man sich oder etwas darunter verstecken konnte. Wir taten es, fanden jedoch nichts, was uns einen Hinweis darauf gegeben hätte, ob mein Vater in dem Haus gewesen war.
Im Obergeschoss waren die Möbel nicht verhüllt. Wir blickten in das Schlafzimmer meiner Eltern, in dem sich nur ein leerer Schrank befand. Weiters fanden wir ein Bad und eine Toilette in dem Stockwerk. Schließlich blieb nur noch ein Zimmer übrig. Mein Zimmer .
Ich zögerte, stand vor der Tür und vermochte nicht den Türknauf zu drehen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Es war die Angst vor einer Überzeugung tief in mir. Die Überzeugung, dass all das Böse im Haus von diesem Zimmer ausging . Jahrelang war es dort eingeschlossen und hatte nur darauf gewartet, dass ich jetzt diese Tür öffnete.
Dave schien meine Angst zu spüren. Er legte die Hand auf meine Schulter und sagte in bemüht ruhigem Tonfall, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Und wenn alle Stricke reißen würden, könnten wir ja einfach die Tür von außen schließen.
Dave hatte Recht. Vielleicht genügte es, die Tür wieder zu schließen und alles in diesem Zimmer für immer einzusperren. Vielleicht brauchte mein Gehirn diesen Ort, um mit d en Dingen abzuschließen, sie zu verarbeiten, wie Doktor Overlook gesagt hatte, und sie dann nie wieder in einem Traum auftauchen zu lassen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Ich drehte den Türknauf und stieß die Tür auf. Dave leuchtete in den Raum. »Leer«, sagte er und grinste mich an. »Nichts, was dir einen Schrecken einjagen könnte.«
Ich nickte und trat ein. Das Zimmer war nicht sonderlich groß. Vielleicht vier Meter im Quadrat. Gegenüber der Tür befand sich ein Fenster. Regen prasselte gegen die Scheibe. Das Wasser rann in kleinen , kurvigen Rinnsälen nach unten, die im Schein der Lampe wie Leuchtschlangen glänzten. Das Licht fiel auf die Blätter des haushohen Baumes vor dem Fenster, auf dicke Äste, die wie starke Arme wirkten. Klauen, die nach dem Haus, nach dem Fenster, in das Zimmer zu greifen schienen.
»Ich habe mich immer vor diesem Baum gefürchtet«, sagte ich ohne mich umzuwenden. »Der Mond hat den Schatten der Äste an diese Wand geworfen.« Ich zeigte rechts neben mich. »Dann habe ich alle möglichen Monster darin erkannt.«
Ich drehte mich um und zeigte zur Wand gegenüber dem Fenster. »Dort ist mein Bett gestanden. Ein altes Holzbett. Es hat geknarrt, wenn ich mich darin bewegt hatte. Es war ein besonderes Knarren. Als würde es mit mir sprechen. Als würde es stöhne nd sagen, dass ich ruhig liegen bleiben soll, weil ich ihm mit jeder Bewegung weh
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