Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
der Mädchen und eine Gestalt am Fenster. Debbie, die mir nachstarrt, kurz die Hand hebt und winkt.
Wir verändern uns mit den Ereignissen. Auch Debbie.
Und natürlich Chris. Denn hinter der Wut in seinem Blick habe ich noch etwas anderes erkannt: Angst. Diese Apokalypse ist nicht etwas, das morgen oder übermorgen über uns kommt. Natürlich nicht. Dieses absurde Datum, der 20.03.2013, ist eine von Linfords beziehungsweise Timis dreisten Lügen, er hat seine Leser, die Welt genauso getäuscht wie uns früher. Und alle Medien sind bereitwillig darauf eingestiegen, um nichts anderes als eine Massenpanik zu provozieren. Hat auch wiederum etwas von Weltuntergang, genau wie unsere ureigene Apokalypse im Tal, die längst da ist. Sie ist in uns. Hat etwas Ätzendes an sich. Wie eine giftige Säure. Hochkonzentriert und zerstörerisch. Mit jeder Information mehr zersetzt sie uns. Das ist das Gefährliche an diesem Ort. Er wühlt uns auf wie der Sturm das Wasser, die Wolken den Himmel. Er zersetzt unsere Seelen und das fürchte ich mehr als den Tod.
Und Chris – eigentlich ist er der totale Kontrollfreak. Doch während er versucht, die Welt um sich zu kontrollieren, verliert er die Kontrolle über sich selbst. Aber das ist ihm egal. Hauptsache, er fühlt sich stark und sozusagen kugelsicher. Er kann nicht damit leben, wenn ihm die Dinge entgleiten. Ich biege um die Ecke des Campus und sehe mich um.
Hinter mir liegt das Hauptgebäude, etwa zweihundert Meter weiter erhebt sich die preisgekrönte Architekten-Schwimmhalle. Und dort sehe ich eine Gestalt, die den Kopf an die Scheibe legt und … ich kann hören, wie Chris sich die Seele aus dem Leib kotzt. Jeder Ort hier im Tal steht für ein Trauma. Die Schwimmhalle für Julias Entführung durch Peter Forster. Und für die schlimmsten Stunden in Chris’ Leben.
Ich komme ihm näher. Uns trennen nur noch wenige Meter. Er richtet sich auf, schwankt und torkelt weiter. Der Untergrund ist nass und rutschig vom Regen. Ich bin schneller als Chris. Zwar fühlen sich meine Beine vor Müdigkeit an wie Pudding, aber ich bin nicht betrunken. Und dennoch wundere ich mich, dass ich ihm nicht näher komme.
»Bleib stehen. Lass uns reden«, schreie ich in den Himmel, denn Chris ist verschwunden.
Er will mir nicht zuhören.
Aber ich kenne sein Ziel.
Limits
M atsch unter meinen Füßen. Feuchtigkeit, die durch meinen Pullover dringt. Ich habe tatsächlich vergessen, eine Jacke anzuziehen. Spüre wieder den roten Sand überall und bewege mich in der Stille und der Dunkelheit wie in einem Stummfilm.
»Ich brauche einen Drink«, murmele ich, als ich durch das offen stehende Tor trete. »Und einen guten Film. Vielleicht dazu eine Tüte Chips – scheiß auf die Krümel im Bett. Ich möchte ein Wochenende im Bett. Und erst wenn ich einen Plan B habe, wieder aufstehen.«
Es fühlt sich total scheiße an, wenn man keinen Plan hat. Dabei könnte es anders sein. Ich könnte mich frei fühlen.
Ich zucke zusammen.
Ich spüre es mehr, als ich es höre.
Irgendwo klingelt ein Telefon. Und wenn ich sage »klingeln«, dann meine ich das auch. Also nicht irgendeiner dieser schrägen Klingeltöne, wie man sie aus dem Internet herunterlädt. Toms Handy zum Beispiel spielte in den letzten Tagen immer wieder Bach. Da hätte ich mir schon denken müssen, dass etwas nicht stimmt. Und ich selbst reagierte eine Zeit lang nur auf eine arabische Blaskapelle.
Aber was jetzt durch die enge Gasse zwischen dem Collegegebäude und der Bungalowreihe schallt, ist das typische Klingeln eines urzeitlichen Telefons. Nicht laut, aber in der Stille, die hier draußen herrscht, würde man sogar das Rülpsen einer Ameise hören, wenn die hier im Tal eine Überlebenschance hätte.
Dann bricht der Ton ab und ich bleibe stehen.
Rechts von mir reiht sich ein Bungalow an den anderen. Ich muss die quadratischen Häuser zählen, bis ich vor Brandons Eingang stehe. Alles ist dunkel und ich frage mich, ob ich mich doch geirrt habe – ob Chris gar nicht hier ist. Doch als ich die letzte Stufe erklommen habe – steht die Tür bereits einen Spalt offen. Mein letztes Zögern löst sich in Luft auf und ich stolpere gegen ein Hindernis. Im Flur stapeln sich Kisten. Brandon hat bereits gepackt.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass hier alles hell erleuchtet ist. Vor meinem inneren Auge habe ich Chris gesehen, wie er den Bungalow stürmt, den Prof am Kragen packt, ihn aus dem Bett zerrt und ihm seine Fragen ins Gesicht schleudert.
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