Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
Brandon, der damals als Assistent von Chris’ Vater dabei war, als die Studenten verschwanden, und der immer noch im Tal lebt. Aber das Haus scheint verlassen, es strahlt eine Stille aus, die privat, ja fast intim ist.
Ich wage es nicht, nach einem Lichtschalter zu suchen. Also taste ich mich vorsichtig weiter. Ich habe keine Lust, Kartonstapel zum Einsturz zu bringen, die ich mehr erahne, als sie wirklich sehe.
Scheiße, Chris, wo bist du denn, verdammt noch mal?
Ich versuche, mir vorzustellen, ich sei blind. Vielleicht hilft das, alle anderen Sinne zu aktivieren. Und dann spüre ich etwas Feuchtes an meiner Hand. Jemand atmet laut, direkt neben mir. Mein Herz schlägt immer lauter. Ich weiche zur Seite und es passiert, was passieren muss. Ein Kartonstapel knallt mit lautem Krach zu Boden. Ich erstarre, als etwas Raues meine Hand streift. Dann ein Kribbeln. Eine Invasion von Insekten scheint über meine Handfläche zu rennen und dann ein Schmerz, als ob diese Killerbestien etwas in den Boden rammen, ihre Fahne hissen und meine Hand zu ihrem Eigentum erklären.
Doch mein Geruchssinn funktioniert. Es riecht nach alten Socken. Mindestens. Hey, das stinkt so bestialisch, als ob in irgendeiner Ecke oder eingeklemmt zwischen den Kartons eine Leiche seit Tagen vor sich hin gammelt. Das würde auch die Insekten erklären, denke ich noch, als mein Verstand sich einschaltet. Schließlich habe ich Brandon heute noch live erlebt.
Und dann atme ich auf, weil ich es plötzlich kapiere: »Mann, scheiße, Ike! Hau ab, such dir andere Knochen, an denen du dich festbeißen kannst«, flüstere ich. Und Ike wäre nicht der genialste Hund aller Zeiten, wenn er nicht antworten würde. Ein ziemlich hysterisches Hecheln bringt mich zum Lachen, was zu weiteren Streicheleinheiten mit der Zunge führt. Ich ziehe die Hand weg.
»Wo ist er?«, will ich schon fragen, als ich spüre, wie der Hund sich von mir wegbewegt. Ich muss nur dem Geruch folgen und dann höre ich plötzlich leises Gemurmel hinter der Tür, auf die ich mich zubewege.
Eigentlich könnte ich jetzt umdrehen, denn Chris ist offensichtlich nicht dabei, Brandon zu ermorden. Kaum bin ich die Sorge los, schießt die Neugierde in mir hoch.
Worüber reden die beiden?
Ich bleibe stehen, kann aber nur einzelne Worte verstehen. Brandon spricht.
»So weit es in meiner Macht steht, werde ich alle Fragen beantworten«, sagt er.
»Fragen … Antworten«, jetzt muss ich mein Ohr an die Tür legen, um etwas zu verstehen. Chris ist so scheißbesoffen, dass er nur noch lallt. »Das hier ist kein verdammtes Fernsehquiz, verstehen Sie? Und tun Sie nicht so, als hätten Sie keinen blassen Schimmer, was hier läuft. Hey, Sie haben es die ganze Zeit gewusst und trotzdem in Ihren Vorlesungen diese Show geliefert von wegen, wir wären alle Herr über unser Schicksal. Das ist Bullshit. Also machen Sie endlich den Mund auf.« Beim letzten Satz wird Chris lauter. Ike stößt ein leises Knurren aus und es ist nicht nur sein Mundgeruch, der mir Übelkeit verursacht.
»Ich kann nicht in die Zukunft sehen«, erwidert Brandon ruhig. »Das müssen Sie, das musst du mir glauben, Chris. Darüber hinaus: Ich bin der Erste, der sich wünscht, dass es vorbei ist. Irgendwann muss es schließlich mal aufhören.«
»Was? Was muss aufhören?«
Ich verstehe die Antwort nicht, weil abermals das Schrillen des Telefons durch den Flur hallt und das dumpfe Geplapper hinter der Tür überdeckt, ebenso wie das Knurren, das zusammen mit einer neuen Welle von üblem Geruch aus Ikes Kehle dringt. Kälteschauer jagen über meinen Rücken. Telefonanrufe mitten in der Nacht sind nie und nimmer Vorboten gemütlicher Gespräche.
Darüber nachzudenken, bleibt mir keine Zeit.
Die Tür schiebt sich auf, jemand kommt heraus, ich weiche zurück in die Dunkelheit. Gleich darauf bricht das Klingeln ab und ich erkenne Brandons Stimme: »Wer sind Sie?«, fragt er ruhig. »Warum rufen Sie immer wieder an?«
Das anschließende Schweigen ist eindeutig. Da will niemand antworten, sondern terrorisieren.
»Ich kann nichts tun, wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie sind.«
Ich atme laut hinter der Tür. Normalerweise müsste Brandon jetzt auf mich aufmerksam werden. Aber der Professor legt nur auf und macht kehrt. Dumpfes Licht dringt aus dem Zimmer und ich erkenne, dass Brandon nicht im Schlafanzug ist, sondern eine braune Cordhose und ein Jackett trägt. Es ist komisch, dass ich darüber erleichtert bin, aber ich will, wenn ich
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