Das Tal der Hundertjährigen
auf.
Lenin hatte mir die Einrichtung einmal gezeigt, als wir auf dem Weg zu einem der Hundertjährigen gewesen waren. Er war ausgestiegen
und hatte wortlos auf das Anwesen gedeutet … Ich war verwundert, denn es kam selten vor, dass Lenin sich jeglichen Kommentars
enthielt.
San Joaquín ist eine private Einrichtung, geleitet wird sie von Joe Simonetta, einem Absolventen der Harvard Divinity School
(einer Fakultät der Harvard University, an der Religion unterrichtet wird). Die Hazienda liegt etwa zwei Kilometer vom Dorf
entfernt, zwischen den Anden und dem Fluss; Menschen, die von einem langen Leben träumen, steht hier Tür und Tor offen. Dass
dieser Traum nicht jedermanns Sache sein kann, macht ein Werbeschild deutlich: »Schließen Sie sich uns an, wir suchen Menschen
mit Niveau.«
|95| Seine Erklärung, was unter »Menschen mit Niveau« zu verstehen sei: Menschen, die gesund leben, freundlich zu ihren Nächsten
sind und die Natur respektieren. Wer könnte etwas gegen diese Voraussetzungen haben? Das klingt doch harmlos. Und dennoch
impliziert es zwangsläufig, dass die anderen, die große Mehrheit, kein Niveau und folglich keinen Anspruch auf den begehrten
Schatz des langen Lebens haben können.
Ich würde Joe gerne fragen, was er mit »gesund leben« genau meint. Ich finde, dass jeder Dogmatismus an dieser Stelle fehl
am Platz ist. Menschen aus Fernost halten wahrscheinlich viele der europäischen oder amerikanischen Gewohnheiten nicht unbedingt
für gesund, und umgekehrt. Und was den zweiten Punkt angeht: Menschen, die immer nett sind, machen mich geradezu nervös. Sie
wirken auf mich bemüht, zu beherrscht. Auch der Respekt vor der Natur kann zum heiklen Thema geraten. Heikel wird es in meinen
Augen dann, wenn die Natur zum Heiligtum erhoben und der Mensch als das teuflische Wesen dargestellt wird, dem es nur darum
geht, sie zu entweihen. Niemand wird mit dem Plan in San Joaquín anklopfen, hier eine Schadstofffabrik errichten zu wollen.
Für mich riecht das stark nach Fanatismus: Was nicht zur Mutter Natur gehört, ist anrüchig. Der Mensch |96| und seine Erfindungen sind niemals Teil der Natur, sie sind Sünde.
Bedeutet die Rückkehr in das Paradies, wie unschuldige Tiere zu leben? So einfach ist das nicht. Wer einmal vom Baum der Erkenntnis
gekostet hat, dem vermittelt diese Lebensform nicht unbedingt das Gefühl, er befände sich im Paradies.
Zurück zu Isabel Aguirre Ruiz: Sie will etwas von dem Positiven, das ihr in Vilcabamba geschenkt wurde, weitergeben. Deshalb
organisiert sie zwei Mal in der Woche ein Treffen mit den hundertjährigen Frauen des Dorfes. Sie versammeln sich an einem
schattigen Plätzchen in ihrem Garten, erzählen sich ihre Geschichten und drehen dabei in aller Ruhe Chamico um Chamico. Die
alten Frauen sind äußerst flink und geschickt darin – Rheuma kennen sie genauso wenig wie sie eine Brille benötigen. In manchen
Punkten sind sie wirklich zu beneiden.
Bevor sie die in der Sonne getrockneten Blätter zusammendrehen, fügen sie dem Kraut zur Geschmacksverbesserung ein wenig Honig
hinzu. Sie verdienen damit bares Geld, denn Chamicos finden einen erstaunlich guten Absatz in Vilcabamba.
Ob man in den alten Damen nun harmlose Ururomis sieht, die ein Pläuschchen halten, dabei ein regionales Produkt herstellen,
mit dem sie ihre |97| Familie unterstützen, oder gewissenlose Gesellinnen, die hinter der Fassade gesunden und natürlichen Lebens munter Drogen
produzieren, ist eine Frage des Standpunktes. Bekanntlich findet sich ja immer und überall jemand, der den moralischen Zeigefinger
erhebt.
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Elf Uhr morgens auf dem Hauptplatz des Dorfes. Es ist ein milder Tag, wie eigentlich immer … Das Klima wird ja auch gern als
Grund für die Langlebigkeit der Bewohner Vilcabambas angeführt. Aber das findet man andernorts ebenso, ohne dass sich die
Lebenserwartung dadurch drastisch erhöhen würde. Wie dem auch sei, es denkt sich besser bei zweiundzwanzig Grad als bei über
vierzig oder bei zehn Grad minus.
Von meiner Bank aus blicke ich auf ein Geschäft mit dem Schild: »Mini Market – Der Langlebige«. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Am Eingang der Kirche lutscht ein Mädchen an einem blauen Eis, und ein kleiner Junge, höchstens vier oder fünf, hilft einem
alten Mann die Treppe hinunter.
Sonntagmorgen im Dorf, Messezeit, Männer mit blankgeputzten Schuhen und schneeweißen Hemden und Frauen in bunten
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