Das Tal der Hundertjährigen
Menschenverstand
appellieren muss, um zu rechtfertigen, dass ich mich nicht mit meinem sterbenskranken Vater auf und davon mache.
Der Stationsarzt kommt herein. Die Schwester habe ihm Bescheid gegeben, dass ich bei meinem |87| Vater sei, das treffe sich gut, denn er wolle mit mir sprechen.
»Ihrem Vater geht es besser. Die Werte haben sich stabilisiert. In ein paar Tagen können wir ihn entlassen.«
Im ersten Augenblick bin ich sprachlos. Ich habe mit allem gerechnet, nur damit nicht. Ich höre, wie er sagt, dass die Infektion
zurückginge, und den Fuß könne man sich in ein paar Wochen noch einmal ansehen.
»Er ist sehr erregt«, erwidere ich vage.
»Ja. Ich habe schon mit der psychiatrischen Abteilung gesprochen, aber bislang war noch niemand da. Er wird jetzt an die Dialyse
angeschlossen, danach wird er sicher ruhiger. Insgesamt hat sich sein Zustand jedoch deutlich verbessert.« Dann wendet er
sich an meinen Vater und fragt: »Wie fühlen Sie sich heute?«
»Besser, Herr Doktor. Danke.«
Kaum ist der Arzt aus dem Zimmer, kommen die Pfleger mit der Transportliege.
»Vergiss nicht, was wir besprochen haben«, flüstert mir mein alter Herr zu, als sie ihn hinausrollen.
Wir sitzen in einem neuen, wunderschön eingerichteten Restaurant, bei dem man eine Ewigkeit |88| auf das Essen warten muss – dafür wird man mit leiser Hintergrundmusik, dezentem Licht und einem angenehmen Ambiente entschädigt.
Die Getränke haben wir bestellt, aber ich möchte mit meinem Bericht warten, bis wir uns auch für ein Menü entschieden haben.
»Danke, dass du mich ins Krankenhaus begleitet hast. Ich weiß, ich kann manchmal ganz schön stur sein.«
»Ja, du willst den Kampf um deinen Vater ganz allein bestreiten, wie ein Held.«
Hört sich gut an, aber ich bin mir nicht sicher, wie sie das meint. Besser, ich ziehe mich auf sicheres Territorium zurück.
»Soll ich dir von Vilcabamba erzählen?«
»Ja, bitte, ich will alles ganz genau wissen.«
»Es ist beeindruckend, was dort passiert … Es hat mein Denken komplett auf den Kopf gestellt.«
»Wie meinst du das?«
»Bisher habe ich das Alter immer für eine natürliche Lebensphase gehalten. Mittlerweile denke ich, es ist eine degenerative
Krankheit wie viele andere.« Ich flüstere ihr zu, das könne ich natürlich nur ihr sagen, in Ärztekreisen würde man mich in
der Luft zerreißen.
»Das verstehe ich nicht. Jedes Lebewesen stirbt irgendwann. Das ist ein Naturgesetz.«
|89| »Nicht ganz. Es sterben nur die Lebewesen, die sich auf sexuellem Wege fortpflanzen. Es gibt andere, geschlechtslose, die
sich in einem bestimmten Moment teilen. Es entstehen zwei neue Individuen. Die ursprüngliche Zelle aber stirbt nie, zumindest
nicht nach unserer Auffassung vom Tod.«
»Das gilt doch nur für Einzeller.«
»Richtig, sie bestehen nur aus einer Zelle. Aber man kann trotzdem darüber nachdenken, ob es so etwas wie ewiges Leben gibt.
Sexualität und Tod sind offensichtlich eng miteinander verbunden, denn die Wesen, die sich anders fortpflanzen, werden wiedergeboren.«
»Aha … Ich sehe schon, du willst mir noch ein wenig Hirnakrobatik abverlangen.«
»Wie?«
»Schon gut, erzähl weiter.«
»Wir altern aus verschiedenen Gründen. Einer davon interessiert mich besonders: Unsere Zellen sind auf eine bestimmte Lebensdauer
programmiert, und während dieser Zeit können sie sich teilen. Ist ihre Zeit abgelaufen, hören sie damit auf. Und jetzt stell
dir vor, es gäbe eine Substanz, die sie anregen würde, mit der Zellteilung fortzufahren.«
»Dann wären wir unsterblich.«
»So weit würde ich vielleicht nicht gehen. Es gibt auch Tumore, die ein Zellwachstum auslösen, und |90| das hat bekanntermaßen katastrophale Folgen … Aber mal angenommen, bei den Menschen in Vilcabamba würde ein ähnlicher Prozess
in Gang gesetzt, nur für gesunde Zellen. Das hieße doch, dass der Krebs, der uns tötet, für sie den Schlüssel zum ewigen Leben
enthielte.«
»Ist das so?«
»Nichts davon ist bewiesen … Das sind nur so Gedankenspiele von mir. Es gibt etwa zehn Faktoren, die den Alterungsprozess
auf Molekularebene steuern. Vielleicht können wir eines Tages Einfluss auf sie nehmen. Dann würde die jetzige Grenze von einhundertzwanzig
Jahren möglicherweise auf einhundertfünfzig oder gar zweihundert Jahre nach oben korrigiert werden. Die Forschungen stehen
zwar erst ganz am Anfang, aber ich glaube, man kann nicht mehr so kategorisch über das
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