Das Tal der Hundertjährigen
Leben und seine Dauer sprechen. Angesichts
der Hundertjährigen, die ich kennenlernen durfte, kann man nur feststellen, dass Alter und Tod offenbar keine absoluten Begriffe
sind … Aber ich bin kein Spezialist für das Thema. Und für das, was ich mit der Reise erreichen wollte, hat die Zeit nicht
gereicht.«
»Dann fahr noch mal hin. Dein Vater ist über den Berg, und du hattest doch sowieso mehr Zeit für die Reise eingeplant. Wenn
es dich so sehr interessiert, halte ich dir den Rücken frei.«
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Und so bin ich nach Vilcabamba zurückgekehrt.
Nicht, dass die Frau, die ich liebe, mich dazu gedrängt oder bevormundet hätte, wie es Eltern manchmal tun. Sie hat meine
Begeisterung gespürt und dafür gesorgt, dass ich sie nicht verliere.
Während der Reise, die in eine vierundzwanzigstündige Lateinamerika-Odyssee ausartete, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen.
Was hatte ich bis jetzt in Erfahrung bringen können?
In Vilcabamba ist die Anzahl der Hundertjährigen zehn Mal so hoch wie anderswo auf der Welt. Gebetsmühlenartig werden dieselben
Erklärungen angeführt: Die Leute ernähren sich gesund, essen keine industriell gefertigten Produkte, und es werden keine Pestizide
verwendet. Mich wundert nur, dass in der Antike, als die Pestizide noch nicht einmal erfunden waren und es keine Umweltverschmutzung
gab, die Leute viel jünger starben als heute, im Schnitt mit fünfunddreißig. Eine verpestete Umwelt kann zum Tode führen,
daran besteht |92| kein Zweifel, doch eine saubere garantiert noch lange nicht, dass sich die Lebenserwartung über die uns bekannten Grenzen
hinaus erhöht.
Víctor hatte Vilcabamba im Gespräch mit mir als »Zentrum für Herzimmunisierung« bezeichnet. Das ist sicherlich sehr werbewirksam,
führt aber nicht weiter, wenn man dem Phänomen wirklich auf die Spur kommen will.
Er hatte Beispiele von Leuten genannt, die geheilt wurden, und jeder im Dorf bestätigte die Geschichten, doch bislang hatte
ich persönlich keine Gelegenheit gehabt, einen der Geheilten zu interviewen.
Kaum bin ich wieder im Madre Tierra, nehme ich also Kontakt zu Víctor auf und bitte ihn, mir einen der Fälle, von denen er
berichtet hat, vorzustellen. Noch am selben Nachmittag sitze ich bei Doña Isabel Aguirre Ruiz und lausche bei einem Glas Horchata
ihrer Geschichte.
Isabel ist fünfundsiebzig – wie zu erwarten, wirkt sie weitaus jünger. Ihr gehört das Gasthaus von Vilcabamba, was man sofort
an der Art bemerkt, wie sie sich in ihrem roten Kleid und mit ihrer Perlenkette zwischen den im Freien aufgestellten Tischen
bewegt. Das lange dunkle Haar trägt sie streng zurückgekämmt, was ihre schönen Gesichtszüge betont. Ihr gehört außerdem eine
Hazienda |93| im Norden des Landes, auf der Viehzucht betrieben wird. Als sie noch dort lebte, fühlte sie sich stark eingeschränkt: Isabel
litt, wie sie sagt, unter einer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz. Jede Bewegung erschöpfte sie. Ihre Arterien waren verkalkt,
ihr Herz hatte große Mühe, das Blut zirkulieren zu lassen. Und wie jeder Muskel, der viel im Einsatz ist, hatte sich Isabels
Herz mit der Zeit vergrößert.
Ein vergrößertes Herz ist immer ein Problem. Es ist stets mit Sauerstoff unterversorgt, und es schmerzt. Isabel hatte das
Gefühl, sie bekäme keine Luft mehr. Sie verbrachte den Tag im Bett, und nachts war sie so unruhig, dass sie keinen Schlaf
fand. Isabel suchte einen Arzt auf, immer wieder. Und jedes Mal stellte er ein neues Rezept aus, das sie in der Apotheke einlöste;
jedes Mal fand sich ein neues Medikament, das man ihr zusätzlich zu denen, die sie ohnehin schon einnahm, verabreichte. Viele
Pillen und nahezu keine Besserung.
Sie sagt, als man ihr vorschlug, nach Vilcabamba zu reisen, habe sie eingewilligt, ohne sich viel davon zu versprechen. Doch
zu ihrer Überraschung habe sie nach kurzer Zeit im Tal wieder atmen und sich, wie früher, als sie noch jung und unermüdlich
auf ihrer Hazienda unterwegs war, bewegen können. |94| Ihr Blutdruck sank, bis er sich auf normalem Niveau einpendelte, und jetzt kommt sie mit einer einzigen Tablette aus. Aber
selbst die benötige sie eigentlich nicht, das Einzige, was sie bis an das Ende ihrer Tage brauche, sei Vilcabamba. Deshalb
habe sie den Gasthof gebaut.
Ich frage sie, ob viele Leute kämen.
Sie behauptet, ja. Vor allen Dingen, seit das Projekt San Joaquín angelaufen sei, tauchten immer mehr Ausländer
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