Das Tal der Wiesel
vielversprechende Nacht. Komm her, Wieselscheu, und tanze den Todestanz!«
Kaum hörbar drang die zischende Antwort aus dem Abflußloch: »Komm herein, Kine.«
Kine blieb neben der Steigleitung stehen und gab ein rauhes Lachen von sich. Er kannte die Waschküche – sie war eng und dunkel, und er wußte, daß die Ratte dort im Vorteil war. Er malte sich aus, wie das Nagetier in geduckter Haltung auf ihn wartete, um ihn in die Enge zu treiben und ihr übermächtiges Gewicht und ihre Kraft auszunutzen. »Kine kämpft im Freien. Komm heraus und stell dich zum Kampf!«
Die Spatzen wurden ruhiger. Er wünschte, daß Kia dagewesen wäre, nicht um ihm zu helfen, sondern um zu sehen, wie souverän er die Dinge anging. Langsam stolzierte er mit erhobenem Kopf über den Hof, ein Matador, seinen Gesang in den dunkler werdenden Himmel sendend. »Zeig dem Wiesel deine Tapferkeit, Fallenausweicher! Stirb in Ehren! Die Furcht verzögert den Tod nur etwas.« Er bekam keine Antwort. Er rief noch einmal, ergebnislos, dann noch einmal direkt vor dem Loch, darauf vorbereitet, zurückzuspringen, falls die Ratte angreifen sollte – doch sie tat es nicht. Es vergingen zehn Minuten, und die Spatzen, die ihr Interesse verloren, wurden schläfrig. Der Wasserhahn tropfte. Das stetige Plipp-plapp wirkte störend auf Kine, und es kam ihm in den Sinn, daß Kias Abwesenheit wohl eigentlich doch ganz gut war. Die Ratte war schlau. Bei zunehmender Dunkelheit hatte das Nagetier vielleicht irgendeinen Trick auf Lager.
Kine überlegte. Zwei Eigenschaften des Wiesels – Klugheit und Unerschrockenheit – kämpften in ihm. Die eine sagte: »Hüte dich vor dem Schlupfwinkel der Ratte, in dieser engen Umgebung ist sie nahezu unbesiegbar, und ein Wiesel erweist seinen Feinden keinen Gefallen.« Die andere sagte: »Der Kampf verlangt Kühnheit, und das Wiesel ist verwegen.« Die Kühnheit deutete auf das Abflußloch.
Er vergegenwärtigte sich den Zufluchtsort aus seiner Erinnerung. In der einen Ecke befand sich eine Spüle aus Steingut, die an einigen Stellen gesprungen und mit Dreck aus den Spatzennestern bedeckt war. Ein kleines Fenster neben der Spüle ließ nur spärliches Licht hinein, das durch Spinnweben und Schmutz noch gedämpft wurde. Wilderer hatte einige Gartengeräte in den Anbau gestellt – Sicheln, eine Sense, Spaten und Harken –, die meisten wurden kaum benutzt, außerdem lagen dort noch zahlreiche Stangen und Zweige für die Bohnen und Erbsen, die er nebenbei anpflanzte. Es war eine enge Kammer, ein bloßer Sprung von Wand zu Wand, die Decke hing tief.
Irgendwo dort drinnen, im Gegensatz zu ihm an die Dunkelheit gewöhnt, lauerte der Feind. Doch wo genau?
Plipp-plapp, der Wasserhahn tropfte.
Weitere Sterne wurden sichtbar. Unter ihnen eine blasse, gespenstische Erscheinung: die Schleiereule, die Kine erstarren ließ, als sie wie ein riesiger Nachtfalter jenseits des Häuschens vorbeizog. Gleich in der Nähe wechselte ein Spatz seinen Standort; er flog vom Dach des Anbaus in das Stechpalmengebüsch. Das war allerdings merkwürdig. Daß der Spatz nach Einbruch der Dunkelheit die Waschküche verlassen hatte, war äußerst merkwürdig, wenn nicht … Angenommen die Ratte war hochgeklettert, unters Dach! Sehr geschickt; denn es war gut möglich, vom Dach aus auf den Hof zu kommen, und wenn Kine in das Abflußloch hineinschlüpfte, würde die Flucht über den Hof unbemerkt bleiben.
Sein Rückgrat bebte. Der Wasserhahn tröpfelte. Er näherte sich dem Abfluß und schnupperte vorsichtig. Die Ziegelsteine waren grün und feucht, kleine Ranken von Dornengesträuch hatten sich dort verwurzelt. Mit einem flüchtigen Blick nach oben bewegte er sich sachte in die Öffnung, bis er darin verschwunden war, dann drehte er sich um und sah wieder auf den Hof hinaus. Startbereit rief er laut: »Ich komme jetzt herein!«
Einen Moment lang geschah nichts. Kine zitterte vor Aufregung. Dann ein Geräusch – ein Kratzen, hervorgerufen durch eine Bewegung, ein Rutschen an der Wand –, und plötzlich befand sich die Ratte auf Wilderers Hof. Ein scheußliches, verwahrlostes Tier. Ihr graubraunes Winterfell war struppig, der widerliche, schuppige Schwanz unbehaart. Kahle, schwielige Beine zeigten sich unter den kräftigen Hintervierteln und den Schultern; als sie fauchte, wurden ihre langen, scharfen Schneidezähne sichtbar. Kines Angstgefühl kam nur flüchtig durch. Ein derartiges Tier konnte sich innerhalb von zwölf Monaten sechzigfach vermehren. Er
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