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Das Tal der Wiesel

Das Tal der Wiesel

Titel: Das Tal der Wiesel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.R. Lloyd
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streckte sich wichtigtuerisch aus. Er sagte: »Du bist ein Dummkopf, Scrat. Beim Todesbringer gehst du mit Alpträumen hausieren!«
    »Nein, du bist es nicht – du würdest nicht …«
    Kine lachte. »Sei froh, daß ich nachsichtig bin.«
    Dann lief er zum kleinen Mondsee und dachte an Kia. Wenn der Mond im See schwamm, waren alle Gedanken möglich. Es war ein abgelegener Platz, tief im Wald versteckt, schattig an den Ufern – wo sich die Wurzeln des Lebensbaumes eingegraben hatten, und licht, wo sich der Himmel ungehindert im klaren Wasser spiegeln konnte. Am Rande des Sees stand eine Reihe von Weiden, deren Äste sich eingehakt hatten, als ob sie die Eichen, die hinter ihnen wuchsen, zurückhalten wollten. Schilfgräser gediehen dort und Froschlöffel. Tollkirschen versteckten sich in einem üppigen Durcheinander. In den Schilfdickichten gab es Zugänge für die Wasservögel; hier und dort lagen kleine, unbewachsene Buchten.
    Kine liebte es, auf dem überstehenden Ufer neben der Silberweide zu stehen und zu trinken. Hier war das Wasser ungefähr einen halben Meter tief und so klar, daß er die Larven der Köcherfliege auf dem Grund sehen oder die gleitenden Bewegungen der Wasserkäfer verfolgen konnte. Gelegentlich verriet eine sich regende Schwanzflosse die Gestalt eines Fisches. Aber in regenarmen Perioden, wenn die Oberfläche des Sees mehrere Zentimeter tiefer lag, verwandelte sich der überstehende Rand in ein kleines Steilufer, was ihn dazu zwang, seinen Durst zwischen den Schilfgräsern zu stillen, wo seine Pfoten das Wasser mit schlammigen Strudeln befleckten.
    Im Sommer bauten die Enten ihre Nester unterhalb des Steilufers, und Libellen schwirrten glitzernd über den Mondsee. Von der Sonne erwärmt, erstreckte sich vom Ufer aus eine smaragdgrüne Decke aus schwimmendem Laichkraut, während kleine Fische die Wasseroberfläche in aufblitzenden Bogen durchbrachen. Teichrohrsänger gaben dort ihr Ständchen, Kammolche paddelten träge umher. Es handelte sich um einen relativ sicheren Ort; das mürrische Bläßhuhn durchstreifte die Gegend mit einer derartigen Wachsamkeit, daß sich die anderen Wasservögel geborgen fühlten. Es war Kines Zuhause.
    Vom Lebensbaum aus war das erste, was er von der Welt erblickt hatte, der See gewesen. Über den Rand des Nestes starrend, hatte er in jener warmen Nacht unter sich den Mond im Wasser gesehen, der fast von den Schatten der Baumkronen berührt worden war. Tief in der Höhlung verborgen, schienen die Dinge für ihn eine kurze Zeit lang so ihre Richtigkeit zu haben. Später, nachdem sich die Welt in ihrer Wirklichkeit gezeigt hatte, konnte er in einer mondhellen Nacht noch immer auf den See starren und sehen, was möglich gewesen wäre: ein zweiter Kine, der aus dem Wasser zurückblickte, und unter ihm die Sterne. Manchmal stellte er sich vor, andere Spiegelbilder zu sehen: seine Mutter oder seine Brüder. Einmal hatte ihn ein sonderbares grauschnäuziges Wiesel aus dem See heraus angestarrt, und zwar mit einem einzigen Auge, das andere fehlte, dann löste sich das Bild wieder auf – vielleicht eine unbewußte Erinnerung aus seiner frühen Kindheit.
    Der kleine Waldsee war ein verzauberter Ort. An seinen Ufern ließ Kine seinen Phantasien freien Lauf, er wurde von der Umgebung in Bann geschlagen, jedoch nicht getäuscht. Es war Kia, die die beiden Welten durcheinanderbrachte, für sie schienen diese Zaubereien und Schreckgespenster tatsächlich zu existieren. Und Kia vermißte er nun, denn er konnte sich nicht vor einem See seines Sieges rühmen, und Kine brannte darauf, die Geschichte zu erzählen. Alles, was er im Mondsee erblickte, war sein eigenes Spiegelbild. Die Blätter erzitterten. Er sah noch einmal hin.
    »Hallo, Kine. Ich bin in den Wald zurückgekehrt«, sagte sie.
    Er drehte sich erschrocken um.
    »Du siehst überrascht aus, Kine.«
    »Wo bist du gewesen?« Es klang schroffer, als er wollte, und er bereute es im gleichen Augenblick.
    Kia antwortete: »Ich bin allein durch die Gegend gezogen, wie du es gesagt hast.« Dann, mit ehrlicher Bewunderung, fuhr sie fort: »Ich habe die Neuigkeiten gehört. Ich bin begeistert und stolz auf dich. Du hast etwas Fell verloren. Du mußt mir alles erzählen.«
    »Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen …«
4. Kapitel
    Der Sturm heulte, und in seiner Mitte erhob sich die Nerzin aus dem Fluß und kletterte die Uferböschung hinauf. Die heftigen Böen wehten die Angst in das Tal, verwirrten die Schutzinstinkte der

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