Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
entsetzt und legte die Arme um ihren Oberkörper.
»Bei Euch wird wenig genügen. Eure Formen sind jung wie grüne Äpfel. Dennoch, ein Mieder ist unverzichtbar. Und dazu der mit Weidenruten gespreizte Reifrock.«
»Ich will keinen Reifrock!«
»Was tragt Ihr denn gewöhnlich unter diesem, ehm, Sack?«, fragte Dupois und hob mit spitzem Finger Cass’ Wollkleid an.
»Natürlich mein Flachshemd!«, Cass schaute an sich hinab. »Es ist weit und bequem.«
Monsieur setzte zu einer weiteren Tirade an und und vergaß die Stichelei. Cass lockerte verstohlen die Nestelbänder der Schnürbrust, die ihr Übelkeit verursachten. Sie holte erleichtert Luft.
»Wisst Ihr überhaupt zu schätzen, was ich hier für Euch tue? Ich, François Dupois, nähe einer Waisen von zweifelhafter Abstammung das Kleid einer Fürstin! Ich riskiere meinen Rauswurf aus diesen ohnehin bescheidenen Kammern, schlimmer noch: meinen Ruf!«
Der französische Hof, an dem Schneidermeister anscheinend wie Herren leben, muss ein wunderlicher Ort sein, dachte Cass. Jeder englische Page, ja sogar mancher Höfling wäre froh über den Luxus eines so intimen Gemachs. Noch dazu zwei Kammern! Greenwichs halber Hofstaat verteilte sich nachts in Hallen, Korridoren, Alkoven, Wachstuben und Fenstererkern, um auf einer Binsenmatte zu schlafen oder, in den Umhang gerollt, vor den Betten ihrer Herren. Drangvolle Enge war der Preis für die Nähe zur Macht. Sie selbst teilte sich mit vier, oft sogar sechs Kammerjungfern ein Lager – wenn sie es überhaupt aufsuchen konnte! Ihr halbes Leben fand bei Nacht statt.
»Im Palais du Louvre von Paris bewohne ich drei Gemächer. Jawohl. Drei!«
Dupois goss aus einer Kanne mit Wasser versetzten Wein in zwei Becher und reichte einen an Cass. Dankbar nahm sie einen Schluck. Dupois nippte kurz und stellte den Becher angewidert zurück.
»Ah, pauvre de Selve! Der König hat ihm immer noch keinen neuen Burgunder verehrt. Man behandelt uns zunehmend wie Kriegsgefangene! Pah. In meinem Empfangssaal in Paris drängen sich die Vornehmsten des Hofes, um mir ein Gewand abzuschwatzen. «
Cass gähnte verstohlen. Der König verlangte so häufig nach ihr wie de Selve, leider konnte sie dem Ruf des Marquis weit seltener folgen.
Sehnsüchtig glitt ihr Blick zu Dupois’ Bettstatt. Vier Pfosten! Was für ein Traum es wäre, wenn sie sich dort einfach hinstrecken und sich ihren Gedanken hingeben dürfte an das, was er in einem noch prachtvolleren Bett heute Nacht endlich wieder mit ihr tun würde. Als mein Mann! Mein Mann!
»Und hier? Zwei schäbige Löcher. Ohne Luft und Licht.« Dupois plusterte sich auf – in Gedanken an sein Schicksal vertieft – und stolzierte zu den Fenstern der Dachkammern an der Themsefront. Er stieß eins auf. »Direkt über einer Kloake!« Angewidert schüttete er den Inhalt seines Weinbechers hinab. »Dieser Fluss stinkt erbärmlich.«
Unsinn, dachte Cass, er schwillt an vom reißenden Wasser des Frühlings, er bringt neues Leben, spült allen Unrat fort.
Dupois zog mit dramatischer Geste ein Stück Seidenstoff hervor, das er Taschentuch nannte. Mit Leidensmiene presste er es gegen seine beachtliche Nase. »Ich verschwende mich auf dieser Nebelinsel«, sagte er. »Man versprach mir, dass ich für den Obergewandmeister des Königs schneidern dürfe.«
Ah, er hätte diesen Engländern endlich Raffinesse beigebracht. Die Bilder von Edwards Vater zeigten deutlich, dass die königlichen Schneider keinen Geschmack hatten. Auf den Porträts von Meister Holbein erinnerte Heinrich der Achte an ein juwelenbesetztes Butterfass. Ein glitzernder Fettfleck. Er, der unvergleichliche Dupois, hätte Größeres vollbringen können. »Aber was ist? Voilà. Man sagt das Turnier zum ersten Mai ab. Einfach so.« Er schnippte mit den Fingern.
»Der König war zu krank«, warf Cass ein und biss sich sofort auf die Lippen. Niemand, niemand durfte auch nur ahnen, dass sie mit Edward in enger Verbindung stand.
Der Schneider winkte ab. »Ihn plagte wie immer sein leidiger Husten, sonst nichts.« Er streichelte die Stoffballen, die auf einem Tisch beim Fenster aufgetürmt waren, als müsse er sie für ihren verpassten Auftritt trösten. Verdammter Frömmlerhof! Wehmütig versank er in Träumen aus flüsternder Seide und knisterndem Brokat, schnitt in Gedanken Schecken, Wämser, gepluderte Hosen, Prunkroben und Feststaat.
Cass Blick flog zu der Schneiderpuppe bei der Tür, die in ein üppig gepolstertes Wams für den Thronerben
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