Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
und seine Eskorte sie passiert hatten.
»Wenn du deinem Busenfreund helfen willst, warte nicht länger! Lenk den Kaufmann ab!«, fuhr Painbody sie an. »Na los! Geh den Fettsack um ein Almosen an oder mach ihm schöne Augen!«
Cass’ Körper versteifte sich. Sie schüttelte den Kopf und spürte dabei einen stechenden Schmerz, der von der Wunde in ihrem Schädel ausstrahlte.
»Mach schon! Der hat genug von allem, was uns fehlt! Schau auf die Ringe an seinen Händen.«
Er gab ihr einen herzlosen Stoß in Richtung des Kaufherrn. Cass taumelte auf ihn zu. Als sie den glitzernden Schmuck sah, den der Mann trug, schössen ihr Lichtblitze ins Auge – das blutrote Funkeln von Granat, das durchscheinende Blau eines Aquamarins und die sanfte Kühle eines milchweißen Mondsteins. Was für ein eitler Geck ... Ihr schwindelte, als plötzlich ein Bild in ihr hochschoss. Das Gesicht eines jungen Mannes mit Pechhaar und Augen, dunkel wie die Nacht, und dabei schillernd wie der Opal an seinem Ohr. Ein gut aussehender Mann, ein anziehender Mann ... Er hatte sie bedroht. Warum?
Weiter, mach weiter!, feuerte sie sich an. Ihre Gedanken begannen eine fieberhafte Jagd. Sie hatte ihn den Spanier genannt. Aber er hatte keinen spanischen Namen. Der Turm ... Sie stand im Licht der aufgehenden Morgensonne auf dem Turm ... Sie suchte Halt ... Ihre Hände krallten sich unwillkürlich in den Stoff ihres Kleides.
»Hilf mir!« , schrie sie und fiel auf die Knie. Soldaten wirbelten herum, legten ihre Hellebarden vor. Das Tuscheln der Menge verstummte, alle Blicke ruhten auf Cass, die sich krümmte und würgend die Arme um die Mitte ihres Leibes schlang.
»Nicht schlecht! Wer hätte das gedacht? Sie ist gar nicht schlecht«, murmelte Painbody, während er aus den Augenwinkeln Nats flinke Finger in den schwammigen Nacken des Kaufmanns gleiten sah. Ein Ruck würde genügen. Die Rufe und Schmeicheleien der Bittsteller hoben wieder an. Der Kaufmann tat sich besonders hervor. »Heil unserem König Edward! Und Heil Euch! Sir Sidney, einen Augenblick nur! ... Hierher, seht hierher! ... Gewährt einem treuen Untertan einen Augenblick Eurer kostbaren Aufmerksamkeit! ... Ihr seid der erste und beste Mann des Königs, Sir, darum wende ich mich an euch!«
Painbody verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust. Niemand hatte Augen für Nat. Der Pöbel sammelte sich um das Mädchen am Boden und gaffte neugierig.
»Sieht aus, als war sie dem Gottseibeiuns begegnet ... Muss was Falsches gegessen haben.«
»Oder was Giftiges.«
»Wie das?«, grölte einer dazwischen. »Die Reste von Dudleys Fest sind doch noch nich verteilt worden!«
Gelächter folgte.
»Dir werden sie dein Schandmaul noch mit Eisen ausglühen! Die hat ne schlechte Pastete erwischt oder von den gesottenen Kaidaunen da drüben probiert. Sauzeug!«
»Füllt aber den Ranzen und macht schön satt!«
»Lasst mich durch, vielleicht kann ich der jungen Frau helfen.« Eine selbstbewusste Stimme ließ die Runde aufhorchen. Sie gehörte der Frau, die eben noch unter dem Baldachin von Sir Henrys Barke gestanden hatte.
Ohne auf ihr teures, wenn auch nicht höfisches Kleid zu achten, sank Lunetta van Berck neben Cass auf die Knie, legte ihren Arm um die Schulter des Mädchens und richtete es vorsichtig auf.
»Was ist mit dir? Hast du Schmerzen?«
Cass öffnete den Mund, um zu antworten. Painbody wollte schon einschreiten, als ein quiekender Schrei ertönte.
»Ein Dieb! Man will mich bestehlen! Ein Dieb!«
Joshua Painbodys Augen flitzten zu dem feisten Kaufmann, der den strampelnden Nat beim Kragen gepackt und in die Luft gehoben hatte. Nat trat mit den Beinen und biss ihm in die Hand. Der Kaufmann ließ ihn fallen. »Sauschwanz! Packt den Galgenstrick! Packt ihn! Wer ihn fängt, bekommt einen blanken Shilling von mir.«
Ein Tumult brach los.
Lunetta legte schützend die Arme um Cass. Leute sprangen über sie hinweg, der Tritt eines Soldaten traf Lunetta in der Seite. Sie schrie auf, aber niemand beachtete die beiden Frauen. Die Hatz auf einen ertappten Beutelschneider versprach mehr Aufregung als ein krankes Mädchen und eine verrückte Bürgerin im Schlamm. Cass hob den Kopf, ihre Blicke suchten Nat. »Hilf ihm, Herr!«, flüsterte sie. »Hilf ihm! Er ist doch nur ein Kind!«
»Wen meinst du«, fragte Lunetta.
»Nat, den Dieb.«
»Du kennst den Jungen?«
Cass hielt den Blick gesenkt. Lunetta fragte nicht weiter. »Sei beruhigt, er hat die Beine in die Hand genommen und ist längst
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