Das Tartarus-Orakel
Stock allerdings gab es eine weitere Vorsichtsmaßnahme, denn die gewundene Daru-Treppe konnte mühelos abgeriegelt werden, so dass jeder Dieb im Obergeschoß gefangen saß. Man konnte die Siegesgöttin in ihrer Ruhe stören, aber man konnte sie nicht fortschaffen.
West und Big Ears, die ihre weißen Wartungsdienstoveralls trugen, stiegen zum obersten Treppenabsatz hinauf und blieben vor der hohen Statue der Nike stehen.
Dann stellten sie ein paar Topfpalmen um, die auf dem Treppenabsatz verteilt waren, ohne dass die wenigen Besucher, die an diesem Werktag an der Statue vorbeispazierten, von ihnen Notiz nahmen.
West baute ein paar Palmen ein Stück links von der Siegesgöttin auf, während Big Ears zwei große Kübel zu der Tür schleppte, die nach Süden führte, zu dem an der Seine gelegenen Flügel des Louvre. Lily stand neben dieser Tür.
Niemand beachtete sie.
Sie waren lediglich Museumsangestellte, die eine nicht ganz ersichtliche Aufgabe erfüllten, mit der man sie betraut hatte.
Dann besorgte sich West aus einem nahe gelegenen Lagerraum einen für Wartungsarbeiten vorgesehenen Paravent, baute ihn vor der Siegesgöttin auf und versperrte den Blick auf sie.
Er schaute zu Big Ears, der kurz nickte.
Dann schluckte Jack West jr.
Er konnte selbst kaum fassen, was er vorhatte.
Er atmete einmal tief durch, stieg auf den Marmorsockel, der einst die Armlehne des Zeus gewesen war und schob die Nike von Samothrake – ein unschätzbar wertvolles, 2200 Jahre altes Marmorbildnis – von ihrem Podest.
Die Siegesgöttin hatte sich kaum von der Stelle gerührt, als Sirenen losgingen und rote Lichter aufblinkten.
An sämtlichen Durchgängen donnerten schwere Stahlgitter herab – womm!-womm!-womm!-womm! – und riegelten die Treppe und den Absatz im ersten Stock ab.
Mit Ausnahme von einer Tür. Der südlichen Tür.
Das dortige Gitter sauste herab –
– nur um gut einen halben Meter über dem Boden mit einem dumpfen Scheppern hängen zu bleiben, aufgehalten von den beiden schweren Palmkübeln, die Big Ears kurz zuvor dort abgestellt hatte.
Der Fluchtweg.
Die Siegesgöttin wiederum wurde von den beiden Palmen aufgefangen, die West links neben ihr aufgestellt hatte.
West stürmte zu der umgekippten Statue und musterte ihre Füße, genauer gesagt, den schmalen, viereckigen Marmorsockel, auf dem ihre Füße ruhten.
Er nahm einen schweren Schraubenschlüssel in die Hand, den er im Lagerraum organisiert hatte.
»Mögen mir sämtliche Archäologen auf der Welt vergeben«, flüsterte er, als er mit aller Kraft zuschlug.
Krack. Krack. Kraaaack.
Die Touristen, die auf dem Treppenabsatz standen, wussten nicht, was los war. Zwei Männer wollten nachsehen, was hinter dem Paravent vor sich ging, aber Big Ears vertrat ihnen mit grimmigem Blick den Weg.
Nach den drei wuchtigen Schlägen war der Marmorsockel geborsten – aber in ihm kam ein Rhombus aus massivem Gold zum Vorschein, der rund einen halben Meter breit war.
Das dritte Stück vom Schlussstein.
Es war in den Marmorsockel der Siegesgöttin eingelassen.
»Lily!«, rief West. »Wirf einen Blick auf das Ding! Falls wir es später verlieren sollten!«
Lily kam her, blickte auf den golden schimmernden Rhombus, in dessen Oberseite rätselhafte Zeichen graviert waren.
»Weitere Strophen der zwei Gesänge«, sagte sie.
»Gut. Und jetzt nichts wie weg«, sagte West.
Das Stück wurde in Big Ears’ robustem Rucksack verstaut, dann verzogen sie sich und krochen alle drei, geführt von Lily, unter dem Gitter hindurch.
Sobald sie auf der anderen Seite waren, traten West und Big Ears die Pflanzenkübel weg, worauf sich das Gitter hinter ihnen schloss.
Mit weit ausholenden Schritten stürmten sie einen endlos langen Korridor entlang.
Hinter ihnen ertönten laute Rufe auf Französisch – von den Aufsehern des Museums, die sie verfolgten.
West sprach in sein Funkmikrofon: »Pooh Bear! Seid ihr draußen?«
»Wir warten! Hoffentlich erwischt ihr das richtige Fenster!«
»Das werden wir gleich feststellen!«
Der Korridor, durch den West rannte, endete mit einem Mal an einer Ecke, wo er in einen weiteren langen Gang mündete, der an der äußersten Südseite des Louvre entlangführte. An der linken Wand hing ein Meisterwerk neben dem anderen, hier und da von Flügelfenstern unterbrochen, die bis zum Boden reichten und durch die man auf die Seine blickte.
Und genau in diesem Augenblick kam ein Trupp bewaffneter Museumswärter unter lauten Rufen angerannt und
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