Das Tattoo
Horus, der alte ägyptische Gott des Lichtes und des Himmels, lag in Scher ben auf der Erde.
Beim nächsten Beben verlor sie das Gleichgewicht und fiel hin. Dieser Ort hier war ihr Gefängnis, aber sie musste unbedingt verhindern, dass er auch noch ihr Grab wurde.
Halb wahnsinnig vor Angst begann sie mit den Fäusten auf den Boden zu hämmern, wobei sie immer wieder laut schrie.
„Hilfe! Helft mir! Lasst mich raus! Lasst mich hier raus!”
Nach einer Weile ging die Tür auf. Eine Sekunde lang glaubte sie, Horus höchstpersönlich gegenüberzustehen, bis hin zu den scharfen Falkenaugen. Doch gleich darauf packte Pharaoh sie am Handgelenk und zerrte sie aus ihrem goldenen Käfig hinaus aus all der Pracht, die gerade mit ohrenbetäubendem Krachen in sich zusammenstürzte.
„Lauf weg, Francesca! Lauf weg, so schnell du kannst!” schrie er, während er sie hinter sich herzerrte.
Sie rannte, aber nicht mit ihm. In Gedanken rannte sie zu Clay.
Frankie schrak aus dem Schlaf hoch, mit Clays Namen als stummem Schrei auf den Lippen. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, und ihr Herz hämmerte, als ob sie einen 1000-Meter-Lauf hinter sich hätte. Clay schlief neben ihr, ein Arm lag ausgestreckt über der Stelle, wo eben noch ihr Kopf gelegen hatte. Immer noch völ lig verstört von ihrem Traum schob sie sich das Haar aus dem Gesicht und kroch aus dem Bett. Clay erwachte fast augenblick lich.
„Frankie?”
„Ich muss kurz ins Bad”, sagte leise und tappte auf Zehen spitzen nach nebenan.
Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, knipste sie das Licht an und warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Die Frau, die ihr entgegenschaute, war eine Frem de. Auch wenn sie nicht wusste wie und warum, wusste sie jetzt doch, dass sie während der letzten zwei Jahre mit einem anderen Mann zusammengelebt hatte. Vielleicht nicht freiwillig, aber sie hatte trotzdem mit ihm gelebt.
„Wie konntest du das bloß tun?” flüsterte sie ihrem Spiegel bild zu.
Doch sobald die Worte ausgesprochen waren, hatte sie auch schon die Antwort. Sie hatte nicht gelebt, sie hatte erduldet. Und dabei immer gehofft, dass sie irgendwie einen Weg finden würde, zu Clay zurückzukommen.
Nun, sie hatte es geschafft. Sie war wieder da, wo sie hinge hörte. Die Frage war nur, ob sie hier sicher war. Oder ob sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten. Würde dieser menschliche Habicht wieder kommen und sie holen? Sofort
dachte sie an Flucht. Sie könnten umziehen. Sie könnten sich ver stecken. Sie könnten …
Angewidert von sich selbst unterbrach sie ihren Gedanken fluss. Sie weigerte sich, ihrer Angst nachzugeben. So wollte sie nicht leben. Bis sie Clay getroffen hatte, war ihr Leben von Unsi cherheit geprägt gewesen. Sie wollte wieder so leben wie vor ihrem Verschwinden. Aber das würde ganz bestimmt nicht passieren, wenn sie ständig auf der Flucht war.
Noch während sie ihr Spiegelbild anstarrte, begann in ihrem Kopf eine Idee Gestalt anzunehmen. Wenn der Mann das nächste Mal auftauchte, würde sie nicht wieder das Opfer sein. Der Jäger würde zum Gejagten werden, und sie würde einfach abwarten.
Betty LeGrand lächelte ihre Schwiegertochter über ihren Salat hinweg an. Sie hatten sich in einem von Bettys Lieblingsrestau rants zum Mittagessen verabredet.
„Schmeckt dein Hähnchen?” fragte sie und deutete mit ihrer Gabel auf Frankies gegrilltes Hähnchen und den Nudelsalat.
„Mm”, sagte Frankie, die gerade den Mund voll hatte, lä chelnd und nickte.
Betty spießte noch ein Salatblatt auf und kaute nachdenklich, während sie Frankies Gesicht betrachtete. Das Mädchen war dünner als früher, aber das war wohl bei dem, was ihr passiert war, kein Wunder. Betty hoffte inständig, dass Frankies Erinne rung endlich zurückkommen möge. Das Schlimmste war die Un gewissheit.
Frankie dachte beim Essen an den hinter ihr liegenden Vor mittag. Betty war wie versprochen pünktlich um acht Uhr am Morgen aufgetaucht. Clay hatte dreißig Minuten später das Haus verlassen, und bis auf ihre Ausflüge ins Bad war Frankie keine Se kunde allein gewesen. Doch nach ihrem Traum von letzter Nacht
hatte ihr das nichts mehr ausgemacht. Sie hatte größere Probleme, als sich Sorgen darüber zu machen, dass sie aus Liebe er drückt werden könnte.
„Danke, dass du mir die Zeitungsausschnitte mitgebracht hast, Betty.”
Betty legte ihre Gabel hin. „Ich war mir nicht sicher, ob ich sie dir wirklich zeigen soll, aber wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher