Das Tattoo
eines Jungen im Ohr.
Clay sah einen Schatten über ihr Gesicht huschen. Als sie er schauerte, nahm er sie in seine Arme. „Was ist, Baby?”
Sie wischte sich mit einer zitternden Hand übers Gesicht. „Ich weiß nicht. Da war irgendeine flüchtige Erinnerung, aber sie ist weg.” Sie seufzte.
„Willst du, dass ich anrufe?” fragte Clay.
Frankie zögerte eine Sekunde, dann straffte sie die Schultern. „Nein, ich mache es selbst. Aber bleib in meiner Nähe, okay?”
„Ich weiche dir nicht von der Seite, Francesca. Verlass dich drauf.”
11. KAPITEL
Zurückgelehnt in ihren Sitz wappnete sich Frankie gegen die dro hende Erinnerungsflut, während Clay auf Kitteridge House zufuhr. Als sie dieses Tor zum ersten Mal passiert hatte, war sie noch zu klein gewesen, um richtig durch die Windschutzscheibe schauen zu können. Sie konnte sich nur noch an die kahlen Äste der Bäume erinnern, die sich wie die Arme eines Skeletts in den Himmel gereckt hatten, und daran, dass sie Angst gehabt hatte. Sie hatte alles verloren, was ihre Identität ausgemacht hatte: ihre Eltern, ihr Zuhause - sogar ihre eigenen Spielsachen. Sie hatte nur ihre Kleider mitnehmen dürfen, einen kleinen Teddy und ihre Schmusedecke.
Sie seufzte. Und nicht einmal die Schmusedecke hatte sie lan ge gehabt, wie ihr jetzt wieder einfiel. Eines Tages war sie in die Wäscherei gegeben worden und nie mehr zurückgekommen. In späteren Jahren hatte Frankie sich gefragt, ob das eine Erzie hungsmethode gewesen war, oder ob die Decke wirklich verloren gegangen war.
„Geht’s dir gut?” fragte Clay.
Frankie nickte. Sie war gerührt, dass er sich ständig solche Sorgen um sie machte.
„Ja”, sagte sie leise. „Ich muss im Moment nur einiges verdauen.”
Er nickte, während er sich auszumalen versuchte, wie sie sich damals als Vierjährige wohl gefühlt haben mochte, aber es gelang ihm nicht. Doch allein bei dem Gedanken daran, dass er als Kind seine Mom und seinen Dad verloren haben könnte, lief ihm das Herz über vor Mitleid mit dem kleinen Mädchen, das sie gewesen
war.
Die Auffahrt mündete jetzt in einen Wendehammer, und er
ging vom Gas. In gewisser Hinsicht* dachte Clay, kehrte Frankie heute auf eine ähnliche Weise nach Kitteridge House zurück wie sie damals gekommen war. Jedes Mal hatte sie einen Verlust erlit ten. Damals hatte sie ihre Eltern verloren und jetzt fehlten ihr zwei Jahre ihres Lebens.
„Es ist wirklich groß”, bemerkte Clay.
„Und alt”, fügte Frankie hinzu.
Der sorgfältig gepflegte Garten war in einer Art kargem Süd weststil angelegt, obwohl einzeln verstreute große Bäume mit aus ladenden Kronen Schatten spendeten. Zusammen mit den fein säuberlich gestutzten Hecken sowie dem Kakteengarten konnte das Grundstück sich durchaus sehen lassen. Clay wusste, dass alles Grün in Albuquerque den unterirdischen Bewässerungssystemen und den ausgedehnten Berieselungsanlagen zu verdanken war.
Die Gebäude waren zwar groß, ließen aber schmückenden Zierrat vermissen. Im Zentrum stand ein zweistöckiger Bau ohne Markisen oder Veranden, von dem eine Vielzahl von Flügeln ab zweigte wie die Speichen eines Rades.
Kitteridge House war 1922 von Eugenia Kitteridge zum Wohle und Schutz von Waisenkindern gegründet worden. Im Lauf der Zeit waren die Richtlinien dahingehend verändert wor den, dass auch Kinder Zuflucht finden konnten, die von ihren El tern im Stich gelassen worden waren. Obwohl nicht alle Kinder hier Waisen waren - und nur Waisen konnten adoptiert werden -, hatten sie doch eines gemeinsam: Sie hatten alle kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren konnten.
Nachdem sie an dem Gärtner vorbeigefahren waren, drehte sich Frankie noch einmal um. Sie erkannte den Mann nicht, obwohl es möglich gewesen wäre. Aber seit ihrem Aufenthalt hier waren acht Jahre vergangen, und wahrscheinlich hatte sich viel verändert.
„Es kommt mir heute alles kleiner vor als damals.”
Clay lächelte. „Ist es aber nicht, Baby. Deine Welt ist einfach nur größer geworden, das ist alles.”
Sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel, schöpfte Kraft aus seiner Stärke. „Du bist meine Welt.”
Er verspürte einen brennenden Schmerz. Bitte, Gott, nimm sie mir nicht weg. Er parkte vor dem Haupteingang und machte den Motor aus. Francesca wartete darauf, dass er nun die Initiati ve ergriff. Er zwinkerte ihr aufmunternd zu.
„Ich liebe dich auch”, erklärte er sanft. „Und nur fürs Proto koll, diese Diskussion werden wir
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