Das Tattoo
zwischen den Fingern lehnte er sich zu rück und schloss die Augen, während er sich an den Tag im Flug zeug erinnerte. Es war so viele Jahre her gewesen, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, und doch hätte er ihr Gesicht überall erkannt.
Bis er die Zeitung zur Hand genommen hatte, war der Flug langweilig gewesen. Und zuerst hätte er das Foto fast überblättert. Auf den ersten Blick war es völlig nichtssagend - irgendein Foto graf hatte eine lachende junge Frau im Regen fotografiert. Doch als ihm beim zweiten Blick dämmerte, wer diese Frau war, hatte sich das Gravitationszentrum seiner Welt gründlich verlagert.
Die junge Frau auf dem Bild war Francesca gewesen. Seine Francesca.
Ihm war plötzlich ganz schwindlig geworden vor Glück, doch als er an die vielen Meilen gedacht hatte, die sie trennten, war ihm das Herz wieder schwer geworden. Am liebsten hätte er sofort etwas unternommen, aber bis zur Landung hatte er schon noch durchhalten müssen.
Aber dann, so hoffte er plötzlich, würde er vielleicht endlich für die langen Jahre geduldigen Wartens belohnt werden.
Einmal hatte er bereits eine Chance gehabt, sie zurückzuge winnen, aber die hatte er gründlich vermasselt. Er nannte es seine Fünf-Jahres-Dummheit. Noch ehe sich die Gefängnistore wieder für ihn öffneten, hatte Francesca, die in der Zwischenzeit acht zehn geworden war, das Waisenhaus mit unbekanntem Ziel ver lassen. Er erinnerte sich noch heute an die Panik, von der er heimgesucht wurde, als er begriffen hatte, dass sie einfach aus sei nem Leben verschwunden war.
Bei der Landung in L.A. war Pharaoh bereits fest entschlos sen gewesen, sie zu suchen. Obwohl er natürlich vorher noch Pepe Allejandro über den Verlauf seiner Reise hatte informieren müssen.
Vier Stunden später, als Pharaoh auf dem Heimweg war, hatte er immer noch versucht, diesen unerwarteten Glücksfall zu ver dauen. Pepe war mit Pharaohs Auftritt außerordentlich zufrieden gewesen - so zufrieden, dass er ihn befördert und ihm einen eige nen Bezirk zugeteilt hatte. Dass dieser in einer heruntergekommenen Gegend von L.A. lag, wo die Bandenkriege tobten, hatte Pharaoh damals nicht gestört. Es war seine Chance gewesen, sich zu beweisen, und er hatte sie gut genutzt.
Und da war noch eine andere Tatsache, die er nicht übersehen konnte. Das alles war erst passiert, nachdem sich sein und Fran cescas Weg wieder gekreuzt hatten. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Es war genauso gewesen wie früher. Die Lehrer
im Waisenhaus hatten in ihm nichts anderes als einen Unruhestif ter gesehen - bis sie gekommen war. Nachdem die Kleine mit dem süßen Gesicht ihr Herz an ihn gehängt hatte, war es allen viel schwerer gefallen, ihn so hart zu verurteilen. Da hatte er ge wusst, dass sie mehr war als nur seine Freundin. Sie war sein Glück. Er musste sie einfach zurückhaben.
Sein Körper protestierte, als er sich in seinem Stuhl umsetzte. Er wollte nicht mehr an seine Enttäuschung denken, aber das Wiedersehen mit ihr war damals doch sehr anders gewesen, als er es sich ausgemalt hatte. Mit einem so vehementen Einspruch von ihrer Seite hatte er nicht gerechnet. Er hatte nie vorgehabt, sie einzusperren, aber ein Tag nach dem anderen war vergangen, und ehe er es recht bemerkt hatte, war sie Monate bei ihm gewesen. Aus den Monaten war schließlich gut ein Jahr geworden, aber sie hatte sich ihm immer noch nicht zugewandt, sondern ihn ange fleht, sie freizulassen, sie wieder zu ihrem Mann zurückkehren zu lassen. Ironischerweise war es am Ende die Natur gewesen, die ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Damit, dass ein Erdbeben seinen sorgfältig ausgeklügelten Plan durchkreuzen könnte, hatte er nicht gerechnet.
Er drehte sich zum Fenster um und schaute in den wolkenlos grauen Himmel. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er genau. Stykowski hätte eigentlich schon längst zurück sein müssen. Pha raoh wurde langsam nervös. Er versuchte sich damit zu beruhi gen, dass seit dem Erdbeben überall ein riesiges Durcheinander herrschte. Zwei von Allejandros besten Männern waren in einem Auto umgekommen, als die Naturgewalten den Freeway in der Mitte auseinanderrissen, mehrere andere waren verletzt, und einer wurde immer noch vermisst. Die Infrastruktur der gesamten Organisation war vorübergehend zusammengebrochen. Die Männer, auf die sich Pharaoh oft verließ, wurden an anderer Stelle gebraucht, und er war gezwungen, sich für seine persönlichen Angelegenheiten
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